Drei Monate verbrachte Karl Duschnitz so sich selbst zerwühlend am zerwühlenden Meer. Dann kehrte er zurück. Man konnte nicht finden, daß er sich im Süden erholt habe. Aber er vermochte sich zu Gesprächen mit den Verwandten zu zwingen, die ihn aufsuchten. Nur den Fragen nach der Katastrophe wich er aus. »Lassen wir das Thema, das erregt mich zu sehr.« Und sprach von etwas anderem.
Als er wieder in das Haus kam, in dem der Flößer Johann Chrapot wohnte, begegnete ihm dessen Gattin auf der Pawlatsche.
»Ich habe meinem Mann alles gesagt.« Und als Duschnitz sie groß anschaute, fügte sie noch hinzu: »Er hätte es bald auch selbst bemerkt.«
Erblaßt drückte Karl Duschnitz seine Hände an das Geländer, als er das erfuhr.
»Was – was – hat – Euer Mann – erwidert?«
»Na, er hat sich halt geärgert. Aber er hat sich doch selbst immer ein Kind gewünscht. Übrigens«, das Weib schlägt trotzig den Kopf zurück, »hab ich zu Hause zu reden.« Und dann: »Kommen S’ herein, er ist drinnen im Zimmer.«
Johann Chrapot liegt ohne Rock auf einem sofaähnlichen Möbelstück.
»Steh auf, der Herr Duschnitz ist da.«
»Herr Chrapot, ich komme, um Ihnen tausendmal zu danken – und Sie um Vergebung zu bitten.«
»No jo«, brummt der Flößer, der beim Eintritt des Fremden aufgestanden ist, mit ernstem Gesicht und denkt nach, was sich da so erwidern ließe.
Aber Karl Duschnitz kommt ihm zuvor. Er zieht die Brieftasche und reicht dem Chrapot zwei Banknoten. Der nimmt sie und dreht sich mit sehr großen Augen nach seinem Weibe um. Sein Gesicht glüht jetzt vor freudiger Aufregung.
»Tausend Gulden.« Der Gedanke, daß er jetzt tausend Gulden habe, ist ihm über die Lippen gehuscht. Dann bemüht er sich, ein würdiges Lächeln zu zeigen. »No jo«, sagt er laut und trägt das Geld zum Schrank.
Auf der Kampa-Insel war des Munkelns kein Ende. Daß der kleine Jaroslav, der Jarda, nicht der Sohn des kranken Flößers Chrapot sei, wußte man; man wußte auch jenen Mann, der damals halbtot vom Wrack herübergebracht worden war, mit der Geburt des Kindes in Zusammenhang zu bringen. Wer aber war jener Fremde gewesen? Die Frage war der Erörterung wert. Frau Chrapot trug jetzt einen großen Damenhut, die Kleider des Kleinen waren in einem Kinderkonfektionsgeschäft gekauft – nicht wie die Kleidchen der anderen Flößerkinder aus Wäschestücken oder Anzügen der Eltern plump zurechtgenäht. Mit jenem Schiffbrüchigen war also bei den Chrapots der Reichtum eingekehrt, und man hätte verteufelt gerne gewußt, wer er gewesen sei. Aber die Chrapotin verriet nichts. Sie war, wie man so sagt, mit allen Salben geschmiert. Als sie ledig war, war sie Fabrikarbeiterin in Holleschowitz gewesen, und die Flößer, die hinter dem Hetzinselwehr anlegten, um beim »Bastecky« den letzten Trunk Prager Bieres zu tun und ihre Flöße zum Remorqueurtransport aneinanderzukuppeln, hatten sie gekannt. Mancher brüstete sich auf der Weiterfahrt lachend eines Abenteuers mit ihr, dessen Zeugen die Grasbüschel auf der Manina-Heide oder die Akaziensträucher der Hetzinsel gewesen seien. Den Flößer Chrapot, der nicht mehr jung und keiner der Klügsten gewesen war, hatte sie oft gehänselt, bevor er begann, ihre Späße damit zu erwidern, daß er ihr nachstellte. Sie machte sich darüber lustig, und lachend erkundigten sich die Flößer, wenn sie sich auf ihrer Tour nachts auf das Floß oder unter die Wirtshaustische in Jedibab und Laube zum Schlafe niederstreckten, bei Chrapot, was wohl jetzt seine Angebetete mache, ob sie seiner in Treue gedenke. Allmählich hatte aber das schlaue Fabrikmädel über die Nachstellungen des Flößers zu spötteln aufgehört. Sie bedachte, daß sich hier eine Gelegenheit zum Heiraten biete, wie sie nicht so bald wiederkehren werde. Und eines Tages wohnte sie als legitime Frau Chrapot auf der Insel Kampa. Die Kampa-Leute, deren Eltern und Familien schon dem Holzschwemmbetrieb entstammten, sahen das ehemalige Fabrikmädel, die »Fabritschka«, der einer der ihren so täppisch ins Garn gegangen war, nicht gerne unter sich, insbesondere die Frauen mochten sie nicht leiden. Frau Chrapot hatte ihrerseits die »Podskalaci« immer verachtet und nicht viel Verkehr mit ihnen gepflogen. Jetzt aber, nach der Geburt ihres Kindes, da sie fühlte, daß sie zum Gegenstand der Neugierde und des Neides geworden sei, verschloß sie sich noch mehr. Die Nachbarn sahen darin den Stolz auf ihren neuen Reichtum. Aus dem Flößer Chrapot wäre noch eher eine Mitteilung herauszukriegen gewesen; aber der war durch Drohungen seiner Frau, unter deren geistiger und physischer Herrschaft er ein völliger Sklave war, zum strengsten Stillschweigen verurteilt, und so brummte er nur abwehrend unverständliches Zeug, wenn ihm bei den Flottmachungsarbeiten im Smichower Floßhafen, bei der Jause am Herdfeuer auf der Prahme oder beim langweiligen Transport durch den Remorqueur die anderen Flößer auf den Zahn fühlen wollten.
Und mochte man den kleinen Jaroslav noch so neugierig mustern – über seinen Stammbaum gab sein Aussehen doch keinen Aufschluß, wenn es auch noch so sehr von dem der anderen Kampa-Kinder abstach. Die Chrapotin pflegte den längst nicht mehr erhofften Sprossen und gab ihm ihre Sorgfalt nicht bloß aus Liebe, sondern um den Neid und die Märchenerzählungen der Nachbarschaft aufzustacheln. Sie zog in den Stadtpark auf Entdeckungsreisen aus, um zu sehen, wie die Reichen ihre Kinder ankleideten, sie kämmte ihrem Jungen auch die Locken über die Ohren, und man kann sich vorstellen, welche Sensation es unter der Karlsbrücke gab, als der Jarda am Sonntag in gelben Schuhen, gelben Socken, in blauem Matrosenanzug und mit Matrosenmütze unter seinen barfüßigen Spielkameraden erschien. Von der Mütze baumelten zwei schwarze Bänder, rückwärts in den Ecken des Matrosenkragens gab es Distinktionssterne und auf dem linken Ärmel einen goldgestickten Anker.
Dabei war Jarda durchaus nicht stolz, er spielte mit allen, schlug das zweigespitzte Wurfholz »Špaček« in Fensterhöhe, peitschte den Kreisel, daß er zwei Minuten auf dem doch holprigen Uferpflaster tanzte, und er wußte beim Beginn von »Räuber und Polizei« die althergebrachte, mystische Formel:
»En ten týny
Sou raka dýny
Buja, buja, buc
Tys to všecko spuc«
so geschickt aufzuzählen, daß das Stichwort »spuc« immer auf seine Freunde fiel; die durften dann die Räuberbande bilden und konnten in der auf geheimem Pfad erreichbaren Ruine, die bei dem Brand der Odkolek-Mühle von dem riesigen, roten Zinnenbau übriggeblieben war, ein Räuberlager aufschlagen, während die beim Auszählen Übriggebliebenen sich mit der wenig aussichtsreichen und auch prinzipiell verhaßten Rolle der Polizisten begnügen mußten. Kein Wunder, daß sich jeder mit ihm zu verhalten suchte. Besonderes Ansehen aber verschaffte ihm eine kavaliermäßige Eigenart beim Kugelspiel, bei »Tschukes« wie bei »Labeda«. Während die anderen Meisterspieler in selbstverständlicher Usance nur so lange mit ihrem Opfer spielten, bis sie diesem alle Kugeln (sechs kosten einen Kreuzer beim Kaufmann Kolant) abgewonnen hatten, borgte Jarda seinem gerupften Partner immer noch Kugeln zu einigen Runden – eine Großmütigkeit, von der man sich einen Begriff erst machen kann, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er dem Gegner nun die Chance gab, den bereits ehrlich erstrittenen Gewinn Jardas diesem wieder abzunehmen, während Jarda selbst nicht mehr gewinnen konnte als höchstens nochmals sein Eigentum. Häufig warf er eine gläserne Kugel mit roten, blauen, gelben und grünen Äderchen im Innern als Einsatz in die Kugelgrube und steigerte so den Spieleifer zu einer unsagbar sehnsüchtigen Glut.
Als man erfuhr, daß Jaroslav Chrapot die deutsche Schule besuchen werde, war das Aufsehen ungeheuer. Denn auch in den Kampa-Häuschen hatte der nationale Haß Miete bezogen. Die Leute verstanden hier nicht, was die Sprachenverordnungen, die Kommissionen, der Paragraph vierzehn, die Obstruktion und die Minoritäten waren, um derentwillen die Zeitungen schrien. Die Leute hier verstanden nicht, über welche Pläne die Omladinisten, die in dunklen Kellern Verschworenen, gebrütet hatten. Die Leute hier hatten die Zeitungsberichte über die Gerichtsverhandlungen gelesen, weil es Zeitungsberichte über Gerichtsverhandlungen waren, sie hatten aber daraus nicht viel mehr erfahren als Namen, Beruf und Alter der Angeklagten, ob sie geständig waren oder leugneten, wie sie aussahen und wie sie verurteilt wurden. Am Abend hatten die Kampa-Leute die Fragen erörtert, ob die Omladinisten den Kaiser und die Erzherzöge ermorden und einen König von Böhmen krönen wollten, oder ob sie bloß die Häuser der Deutschen in die Luft zu sprengen beabsichtigten.
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