Oft zog sie sich auch übers Wochenende in ihr Refugium zurück. Sie wollte, durfte nicht gestört werden.
Ich habe ihr einmal, ein einziges Mal versucht reinzureden. Das wurde so klar und deutlich fürs ganze Leben abgeschmettert, dass ich es nicht einmal gewagt habe, mich auf die Drehscheibe zu setzen.
Dieser Platz gehörte ihr allein. Punkt.
Wenn sie die Wochenenden durcharbeitete, lernte ich, mich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern. Kochen, waschen putzen. Alles, was Dietlinde bisher fast allein tun musste.
Dietlinde war mit ihrer Werkstatt selbständig, ich als Musikverlagskaufmann noch angestellt. Das änderte sich in den 1980er Jahren mit dem Aufkommen der Musikkassetten. Die Branche implodierte und spuckte fast die Hälfte aller Mitarbeiter auf den Arbeitsmarkt.
So auch mich.
Verlagsleiter und Prokurist.
Zwei Jahre arbeitslos.
Das mir.
Die Welt brach zusammen.
Nicht für Dietlinde. Sie schaffte es, meinem beleidigten Hirn auf sanfte aber beharrliche Weise klar zu machen, dass ich verdammt noch mal eine Familie habe und Geld ins Haus kommen müsse.
Als Dipl. Kaufmann. und/oder Verlagsleiter wollte mich niemand. Überqualifiziert. Unterqualifiziert. Nebenqualifiziert. Was auch immer.
Ich habe zwei wesentliche Talente: Ich bin musisch begabt, war aber zu faul. 3. Geige 4. Pult wäre wohl nicht befriedigend für mich gewesen und vor allem auch nicht für meinen Vater. Also setzte er mich zwischen die Stühle: Ich wurde Musikverlags-Kaufmann.
So nahm ich denn meine neue Rolle als reiner Kaufmann an, nahm das Köfferchen und wurde selbständiger Handelsvertreter.
Den künstlerischen Part in unserer Ehe überließ ich Dietlinde.
Alles auf null.
Mein erster Monatscheck: 34,60 DM.
Aber: Ich merkte schnell, dass mir das Verkaufen liegt. Also änderte sich das Einkommen bald.
Und wie! Ich arbeitete ausschließlich auf Provision. Übernahm das volle Risiko.
Dietlinde war inzwischen Keramikmeisterin. Gegen Widerstände der Lehrkräfte an der Fachschule, legte sie im Fernstudium die Meisterprüfung ab.
Ihr Meisterstück, ein Kachelofen, wärmt bis heute die Werkstatt.
Schon früh wurde uns klar, dass sich Lebensängste oder Krisen am besten abbauen lassen, wenn man sich gegenseitig hilft. Auch schon bald erkannten wir, dass ein Leben zu kurz ist, um dauernd Dinge zu tun, die man nicht mag.
So ließen sich zwar keine „Karrieren“ machen, aber, aufgrund der ständigen Suche nach Gemeinsamkeiten und täglich neu zu findenden Lebenszielen, konnten wir ein intensives Leben führen.
Als wir einen Sporttauchkurs am roten Meer geschenkt bekamen, musste eine wichtige Weiche gestellt werden.
Dietlinde konnte zwar schwimmen, hatte aber vor dem Kurs noch nie ihren Kopf unter Wasser gesteckt.
Sie war überaus neugierig auf diese fremde Welt, hatte aber panische Angst.
Eine Entscheidung musste her: Gehen wir durch diese Ängste und entdecken neue Welten, oder nicht? Wenn ja, machen wir das in jedem Fall nur gemeinsam.
Tauchen ist ein derart intensiver Sport, dass man die Erlebnisse teilen können sollte. Außerdem braucht man immer einen Partner, um aufeinander aufzupassen.
Lebensqualität auf Kosten des anderen zu genießen, kann nicht funktionieren.
Wenn das also nicht beide wollen, dann lassen wir es.
Daraus wurde unser Lebensprinzip: Wichtige Dinge im Leben nur gemeinsam zu tun.
Und: sie dann im Rahmen unsere Möglichkeiten tatsächlich auch anzugehen und nicht auf 22
„St. Nimmerlein“ zu verschieben. Manches Mal ergab sich die Umsetzung nicht sogleich, aber wir arbeiteten zielstrebig daran, Wege zu finden.
Es fanden sich Wege: immer!
Das Lebensziel-Zeitkonto blieb daher fast immer leer.
Viele Jahre flogen oder fuhren wir nun zum Tauchen ans Rote Meer. Mal mit Kindern, mal ohne. Wir übernachteten in aller Regel im ‚Million Star Hotel‘ am Strand.
Dietlinde verwandelte sich Unterwasser in einen Fisch. Ausgestreckt und ruhig zog sie ihre Bahnen. Wenn meine Luftflasche nach einer Stunde leer war, hätte sie noch ohne weiteres eine halbe dranhängen können.
Wenn ich Hektiker in 20 Metern Tiefe an einem Felsen hing, weil mein Ohrendruckausgleich nicht funktionierte, umrundete sie mich mit langen, ruhigen Flossenschlägen, ihre Arme vor der Brust verschränkt und glubschte mich aus großen Taucherbrillenaugen an: „Na, Männe, was is? Kommste wieder nicht zu Potte?“, schien sie mir zu sagen.
Als Tauchen zu einem Massensport zu werden drohte, und wir zusehen mussten, wie Massen von Anfängern auf den Korallen herumtrampelten, verabschiedeten wir uns mit einem Trip auf dem Kamel durch den Sinai.
Lagerfeuer, furzende Kamele, zwei Beduinenführer, auf heißen Steinen gebackenes Fladenbrot mit Beduinentee und dann Million Star Hotel.
Wir waren glücklich.
So gingen wir Hand in Hand unseren Lebensweg.
Wir reisten viel.
Übten unsere beruflichen Fähigkeiten aus.
Zogen die Kinder groß.
Bauten die Berghütte, richteten das heruntergekommene Wasserwerk im Grünen zum Wohnen her.
Lebten dort ab Ende 1976 und bauten daran 40 Jahre lang herum. Nicht nur am Haus, sondern auch an unseren Leben.
Was Handwerker können, konnten wir zumindest auch lernen.
Abwechslungsreiche Ernährung, körperliche Bewegung und Freude am Leben sorgten für unsere Gesundheit. Von Zipperlein abgesehen, waren wir nie wirklich krank.
Dietlinde hatte sich 1999 zwar den Hals, gebrochen, als sie vom Pferd stürzte, betrachtete dies aber nicht als Krankheit, sondern überstand die Operationen und Rekonvaleszenz mit ihrem eisernen Willen.
Ehekrisen, die natürlich auch vorkamen, wurden von uns beiden hinterfragt, immer mit dem Ziel, herauszufinden, ob man gemeinsam weitergehen möchte oder nicht.
Wenn ja, sollten beide Partner ihren Beitrag leisten.
Wir unterstützten uns gegenseitig dabei, erwachsen und selbständiger zu werden.
Meist war ich Ursache der Krisen. Mein Vater hat mir sein cholerisches Wesen vererbt. Zwar ist meines nicht so extrem, wie seins, aber doch ausreichend, um Ärger zu produzieren.
Dietlinde verstand es von Anfang an, mich so runter vom Baum zu holen, dass kein größeres Problem für mich, für sie, für die Kinder und sogar für Freunde und Bekannte entstand.
Zumindest zwei größere Einschnitte gab es im Laufe unserer Ehe: Dietlinde war wieder mal in Tansania, wo wir eine kirchliche Partnerschaft mit Kitandililo betreuten.
Dieses Mal blieb Dietlinde länger. Sie wollte mit den Frauen Brennöfen bauen.
Das konnte dauern, da die Damen sehr an ihren Traditionen hängen.
Ich hatte ein komisches Gefühl im Bauch, konnte das aber nicht definieren. Wir hatten vorher zu wenig geredet. Lebten nebeneinander her. Zuviel Routine vielleicht?
Mein Bauchgrimmen wurde stärker.
Ich brachte unsere Kinder und unseren Hund bei Freunden unter und flog hinterher.
Telefon gab es im südlichen Teil Tansanias nicht.
Ich kam überraschend.
Und richtig: Sie überlegte tatsächlich ernsthaft, dort zu bleiben.
Sie war den ewigen Druck leid. Wollte einfach mal ihre Ruhe.
Viel Reden, viel Zuwendung, viel Weinen und die Einsicht, sich mehr Mühe füreinander geben zu wollen, half uns.
Nach ein paar Monaten hatten wir sie wieder.
Das andere Mal ergab sich, während ich Verkaufsleiter beim Brockhaus Enzyklopädie-Vertrieb in Wangen wurde. Dietlinde richtete mir das Büro ein und bekam schnell mit, dass ich anfing die Bodenhaftung zu verlieren.
Meine Leute und ich verdienten 10- 20- 30.000 Mark und mehr, wenn wir gut waren. Monatlich.
Mir, wie den meisten, stieg das zu Kopf. Ich wurde arrogant, gierig und familienuntauglich.
Wieder half Reden und Nachdenken, was uns wichtig ist.
Nun lernte ich die wichtige Lektion: Geld macht nicht glücklich.
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