Insgesamt werden in diesem Buch fünf Fallstudien beschrieben, anhand derer Erklärungsansätze gegeben werden.
Es berichten Mütter, sowie ein Geschwisterkind, wie sie den schmerzlichen Abbruch erleben und wie das Verhältnis vorher war. Auch ein Sohn, der selbst den Kontakt zu seiner Mutter abbrach, berichtet aus seiner Perspektive und wie es soweit kommen konnte - also sozusagen aus seiner Sicht als Rabenkind.
Neben der Frage: „Wie konnte das geschehen?“, suchen die Betroffenen Antworten darauf, wie sie mit der Situation umgehen sollen und was sie tun können, um diesen schier unerträglichen Trennungsschmerz zu überwinden.
An dieser Stelle ein Wort zu den Vätern, die nicht übergangen werden sollen: Sie waren auf mein Nachfragen hin nicht bereit, sich zu äußern. Sie leiden auch, jedoch oft, selbst für ihre Partnerin, nicht erkennbar. Oft fühlen sie sich außerstande, sich zu diesem Thema zu äußern. Sie verdrängen eher. Sie trauern auf ihre Weise: still und für sich.
Anhand der Fallstudien werden in diesem Buch entsprechende Erklärungsansätze aufgezeigt, die darlegen, was in der jeweiligen familiären Vorgeschichte relevant gewesen sein könnte, sodass die Situation schließlich im Kontaktabbruch gipfelte. Daraus ergeben sich mögliche Antworten auf die über allem schwebende Frage nach dem „Warum?“. Es sollen dem Leser und Betroffenen, mit den Fallbeispielen Denkanregungen gegeben und mögliche Maßnahmen zur Bewältigung der schwierigen Situation angeboten werden. Es soll auch, vielleicht Trost zusprechend, gezeigt werden: „Du bist nicht allein!“.
Effektive Lösungen können und sollen hier nicht gegeben werden, da jede Familiensituation individuell ist. Oftmals ist eine Situation wegen fehlender Stellungnahme des Kontaktabbrechers auch nicht lösbar. Das Kind, welches sich abwendet, benennt für seine Eltern nicht klar erkennbar, warum kein Kontakt mehr gewünscht wird. Insofern ist immer nur eine einseitige Sicht und Deutung möglich – was sehr frustrierend für die Betroffenen sein kann.
Daher ist es meist, über die angebotene Hilfestellung des Buches hinaus, ratsam, in der schwierigen Situation professionelle Hilfe in Form einer Beziehungsberatung oder in schwerwiegenden Fällen einer Psychotherapie in Erwägung zu ziehen.
An dieser Stelle möchte ich mich bei den in diesem Buch beschriebenen Betroffenen für ihre freundliche Mitarbeit bedanken. Ihre Bereitschaft, über ihre sehr persönliche Situation zu berichten, ist keinesfalls selbstverständlich. Für jede und jeden von ihnen war es eine große Herausforderung, sich öffentlich zu bekennen. Nach gründlichem Abwägen entschlossen sie sich jedoch mitzuwirken.
Ihr Beweggrund war immer derselbe: Anderen Betroffenen zeigen, dass sie nicht alleine sind mit ihrer Geschichte. Zeigen, dass es keine Schande ist, wenn es in der eigenen Familie passiert. Und vielleicht auch ein bisschen Hoffnung geben und Anregung, wie man mit der Situation umgehen könnte.
Selbstverständlich wurden alle Namen geändert.
Mir ist bewusst, dass sich ähnliche oder fast identische Geschichten auch in anderen Familien, als den hier beschrieben, zutragen. Die Wahrscheinlichkeit ergibt sich alleine schon aus der Häufigkeit der Vorkommnisse.
Falls sich die eine oder andere Parallele zu einer Geschichte ergeben sollte, ist diese rein zufällig und unbeabsichtigt.
Helga erzählt mir, dass sie schon seit einigen Wochen immer mal wieder zum Telefonhörer gegriffen hat, um mich anzurufen. Bei jedem Versuch stiegen aber Zweifel in ihr hoch. Das schlechte Gewissen plagte sie. Sie fragte sich, ob es richtig sei, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Bisher hatte sie sich stets bemüht, kein falsches Licht auf ihre Familie und besonders auf ihre beiden Kinder fallen zu lassen. Schließlich gilt es den guten Ruf der Familie und damit verbunden den ihres Geschäfts zu erhalten.
Helga ist Mitte fünfzig. Sie und ihr Mann Dieter haben zwei Kinder. Tochter Dörte, die ältere der beiden, ist seit zwei Jahren verheiratet und hat eine Tochter. Tobias, der jüngere Sohn, hat vor fünf Jahren geheiratet und hat zwei Töchter. Er brach den Kontakt zu seiner Mutter vor etwa vier Jahren ab. Das war kurz vor der Geburt seiner ersten Tochter. Helga kennt Tobias´ Kinder nicht. Er verwehrt seiner Mutter den Kontakt zu ihnen.
Nach meinem ersten Telefongespräch mit Helga resümiere ich, was sie mir berichtet hat. Im Rahmen meiner Arbeit zu diesem Buch sind mir so einige dramatische Familiengeschichten erzählt worden. Alle sind unterschiedlich, haben aber eine Gemeinsamkeit: Am Ende steht eine verlassene Mutter, die tief erschüttert ist. Jeder dieser Berichte berührt sehr.
Helgas Erlebnis erweitert die ohnehin schon schmerzbeladenen Geschichten, um weitere Aspekte. Zum einen ist da der Kontaktabbruch von ihrem Sohn. Zum anderen belastet es sie sehr, dass sie ihre Enkelkinder nicht sehen darf. Tobias verbiete ihr, wie erwähnt, den Kontakt zu sich und seinen Kindern. Für Helga ist das eine große Strafe. Sie empfindet es so, als würde das Leben nicht weitergehen.
Ich bin mit Helga verabredet. Sie hatte mich gebeten, dass wir uns in einer Großstadt treffen, dort, wo sie keiner kennen kann. Absolute Anonymität ist ihr sehr wichtig. Die erlittene Schmach sei zu groß, wie Helga mir am Telefon mitteilte. In ihrer gesellschaftlichen Stellung könne sie sich das nicht leisten. Sie befürchtet, wenn herauskäme, dass sie ihre „schmutzige Wäsche“ öffentlich wäscht, wäre sie gesellschaftlich ruiniert.
Als ich an unserem Treffpunkt ankomme, ist Helga bereits da und wartet auf mich. Sie hat für uns eine gemütliche Sofaecke ausgesucht, die sich in einer Nische am hinteren Ende eines Cafés befindet.
„Helga, am Telefon haben wir schon kurz darüber geredet, wie Ihre momentane Familiensituation aussieht. Können Sie bitte noch einmal zusammenfassen, was geschehen ist?“
„Nun ja, wie ich Ihnen schon sagte, mein Sohn Tobias hat jeglichen Kontakt zu mir abgebrochen. Ich darf meine Enkeltöchter nicht kennenlernen. Tobias hat mir verboten, es in irgendeiner Weise zu versuchen.“
Kerzengerade sitzt sie auf dem Sofa.
Ich habe den Eindruck, als wäre Helga innerlich erstarrt. Die Geschehnisse haben sie tief getroffen. Mir fällt auf, während sie mir in knappen Worten über ihre Situation berichtet, dass sie nervös an ihrer Bluse herumzupft. Sie ist um Fassung bemüht.
„Helga, wie fühlen Sie sich, wenn Sie mir das so erzählen?“
„Fühlen? Wie soll ich mich fühlen? Traurig und verletzt natürlich. Aber ich versuche, meine Gefühle zu bekämpfen. Ich könnte es sonst nicht aushalten. Und außerdem darf ich Gefühle sonst auch nicht zeigen. Schon gar nicht negative. Dann reden die Leute erst recht und zerreißen sich den Mund. Wissen Sie, wenn man es bei uns im Ort zu etwas gebracht hat und eine gewisse Stellung innehat, dann darf man sich keine Gefühle leisten. Gefühle sind etwas für Loser, Gefühle zu zeigen wäre gleichbedeutend mit Schwäche. Nein, nein, das kann ich mir nicht leisten.“
Helga echauffiert sich geradezu. Mir ist nicht ganz klar, ob es wegen meiner direkt gestellten Frage bezüglich ihrer Gefühle oder ob es vielmehr der Gedanke an ihr gesellschaftliches Umfeld ist. So oder so, für Helga ist es wohl besser, das Gespräch von diesem Thema wegzulenken. Ich möchte sie nicht unnötig in die Bredouille bringen.
„Sagen Sie, Helga, wie war Tobias als Kind?“
„Wie meinen Sie das? Wollen Sie wissen, ob Tobias Scherereien gemacht hat? Ob die Leute gesprochen haben?“
Helga schaut sich ängstlich um, als sie mich das fragt. Fast flüstert sie beim Sprechen. Sie scheint immer auf der Hut zu sein. Geradeso, als hätte sie etwas zu verbergen und Sorge, ertappt zu werden.
„Nein, Helga, ich denke da an grundlegende Dinge: War Tobias ein ruhiges, pflegeleichtes Kind? Oder war er vielleicht sehr lebhaft?“
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