Taggart wies seine Dienstmarke vor, ohne Namen oder Rang zu nennen, und gab Miss Peacocks Zimmerwirtin keine besondere Audienz. Diese fügte sich nach einigem Zögern brummend und führte den Inspector zu einem vorsintflutlichen Lift, der beide, asthmatisch stöhnend, in die dritte Etage hinauftrug.
Mrs. Cartridge öffnete die Wohnungstür und sagte: „Treten Sie bitte ein, Sir, und warten Sie einen Moment in der Diele. Miss Peacock wird Sie empfangen, sobald sie präsentabel ist. Mich werden Sie sicher entbehren können.“
„Selbstverständlich, Mrs. Cartridge“, erwiderte Taggart höflich, „gehen Sie ruhig wieder schlafen; im Übrigen bitte ich wegen der späten Störung um Entschuldigung.“
„Na ja, schon gut, schon gut“, brummte die resolute Frau und verschwand.
Kurz danach trat eine hochgewachsene Blondine in das gemütlich eingerichtete Vestibül, von der der Inspector im ersten Augenblick nur den lässig übergeworfenen Morgenrock aus dünner gelber Honanseide wahrnahm. Sie kam langsam, mit aufreizender Lässigkeit näher, starrte Taggart dreist ins Gesicht und sagte mit heiserer Stimme:
„Mein Bester, Sie sind nicht vom Kriegsministerium, Sie sind ein Lügner.“
„Ich bin Inspector Taggart C.I.D. von Scotland Yard. Miss Peacock, wie ich vermute?“
„Welcher Glanz in meiner Hütte!“, spottete die Sekretärin. „Vermutlich hat man festgestellt, dass ich im letzten Urlaub einige silberne Löffel mitgehen ließ? Würden Sie mir bitte folgen?“
Eleanor Peacock führte den Inspector in ein mäßig großes Zimmer, den typischen möblierten Raum der teureren Preisklasse. Er war mit uralten, aber sehr gepflegten Nussbaummöbeln eingerichtet; lediglich das Murphy-Bett war neu und flüchtig zurechtgemacht. D er Isfahan am Boden hatte in der Mitte eine dünne Stelle.
„Nehmen Sie Platz, Inspector, so Sie welchen finden, und schießen sie los; ich bin rasend neugierig!“, bat Miss Peacock und ließ sich erschöpft in den Chintz-Sessel vor dem Toilettentisch fallen. Ihre bloßen Arme hatte sie vor der Brust verkreuzt, das Kinn trotzig aufgereckt und die Beine übereinandergeschlagen. In der fließenden Linie, die Kopfsilhouette, Hals und leicht gekrümmter Rücken bildeten, lag lässige Arroganz.
Sie wandte langsam den Kopf und blickte Taggart kühl an.
„Ich nehme an, dass Sie nicht wegen einer Bagatelle gekommen sind“, fuhr sie fort und warf einen Blick auf die Armbanduhr. „Es ist schon sehr spät — sprechen Sie ohne Scheu!“
Wider Willen war Taggart amüsiert. Er richtete sich auf, betrachtete gespannt und ein wenig bang das klare, wild-schöne Mädchengesicht seines Visavis und versetzte zögernd:
„Ich wollte, ich hätte auf diesen Besuch verzichten könne, Miss Peacock!“
„Das tollste Kompliment, das mir je gemacht wurde!“, unterbrach sie ihn und drehte sich überrascht zu ihm um. Ihr langes, blondes Haar fiel bis auf die Schultern und wurde durch den Spiegel indirekt hell beleuchtet.
„Sie haben mich missverstanden“, nahm Taggart ernst einen neuen Anlauf. „Denken Sie bitte daran, dass ich nur der Überbringer einer schlechten Nachricht bin — Sie wird Ihnen einen gehörigen Schock versetzen, sofern Ihnen Captain Benham etwas bedeutet hat.“
„Wieso hat ... ? Sie sprechen doch von einem Lebenden!“ Angst stand deutlich in ihren Augen.
„Leider nein“, widersprach Taggart.
„Nein …?“ Es klang wie ein unterdrückter Aufschrei. Eleanor Peacock stach kerzengerade in die Höhe, trat einen Schritt auf ihren Besucher zu, beugte sich vor und legte ihm schwer beide Hände auf die Schultern.
Mit einem Male hatte Taggart den sauberen Geruch teurer, überfetteter Toiletteseife und einen Hauch Chanel Nummer sieben in der Nase.
Nur nicht irritieren lassen!, dachte er und war in diesem Augenblick auf sich selbst wütend. So gelassen wie möglich, und nicht minder unpersönlich, sagte er in einem Zuge:
„Miss Peacock, ich bedaure unendlich, Ihnen mitteilen zu müssen, dass sich Ihr Verlobter, Captain Benham, kurz nach einundzwanzig Uhr dreißig in seiner Wohnung in Kingston erschossen hat.“
„Stan ...? — Tot ...? Er hat sich ... erschossen?“ Ihre Stimme war kaum mehr vernehmlich. Sie wandte sich langsam, wie von einer Zentnerlast beschwert, um, taumelte einige Schritte zum Plattenspieler, öffnete mit puppenhaften Bewegungen den Deckel, nahm eine Platte vom Bücherbord und legte sie auf. Der Teller begann sich zu drehen und der Saphir senkte sich auf die Platte. Die ersten gedämpften Töne des 'Candlelight Walk' ertönten.
Miss Peacock wandte Taggart den Rücken zu und hörte sich, steil aufgerichtet, regungslos, ohne zu zittern, den langsamen Walzer an, mit dessen getragenen Tönen sich in ihr ganz bestimmte Vorstellungen zu verbinden schienen.
Taggart wäre kein Mensch gewesen, wenn ihn das eigenartige Bild nicht gefangen genommen hätte. Dann hielt er es nicht mehr aus. Er griff fahrig in die Tasche, ließ sein Zigarettenetui aufschnappen, nahm zwei Pall Mall, schob sie sich zwischen die Lippen und zündete sie an. Danach erhob er sich, trat zu der um Fassung Ringenden und schob ihr die eine der beiden amerikanischen Zigaretten sanft zwischen die Lippen. Sie schien es gar nicht mit Bewusstsein wahrzunehmen, rauchte aber in hastigen, gierigen Zügen.
Die letzten Takte verklangen, und der Tonarm glitt zum Zentrum der angehaltenen Platte.
„Aus ...“, sagte Miss Peacock, „alles aus ...!“, und es klang wie der wehe Ton einer springenden Geigensaite. Langsam wandte sie sich zu Taggart um. Ihre Augen erglommen in düsterem Feuer, ihr Gesicht war tränennass. „Sagen Sie mir alles, Inspector. Bitte, alles. Und ... noch ... etwas ...“ — sie suchte nach Worten — „... was ich Ihnen noch sagen muss, Inspector Taggart: Sie haben es mir genau richtig beigebracht, das Furchtbare, Unfassliche — Sie sind ein guter Mensch! Und jetzt bitte erzählen Sie. Ich vertrage die Wahrheit. Ich bin keine hysterische Ziege ...“
Taggart erfüllte ihren Wunsch, so behutsam und schonend wie möglich. Es war eine spukhafte nächtliche Stunde, die die beiden miteinander verlebten. Während der Inspector knapp und prägnant berichtete und seine Worte manchmal durch sparsame Gesten unterstrich, saß Eleanor steil aufgerichtet in ihrem Sessel und lauschte mit gefrorener Ruhe. Taggart musste sich widerwillig eingestehen, dass er eine Frau von einer Art vor sich hatte, wie sie ihm nie zuvor begegnet war, und dass ihre Aura Persönliches in ihm zu berühren begann. Er hatte sich — wenn überhaupt — Eleanor als eines von tausend gut gewachsenen Mädchen vorgestellt und musste jetzt die Erfahrung machen, dass sie mehr war: Ein reifer, in sich fest gegründeter Mensch und — eine bildschöne Frau. Die unbekümmerte, ja sogar gleichmütige Weise, in der sie ihren körperlichen Reiz mit in die Rechnung einbezog, ohne sich — welch merkwürdiger Widerspruch — über die Wirkung Gedanken zu machen oder sie wenigstens bewusst zu registrieren, machte ihren Sexappeal keineswegs steril oder absurd. Von ihr ging jene gefährliche Lockung aus, der sich kein richtiger Mann auf die Dauer entziehen kann, und zugleich eine massive Warnung: Versuch' es ruhig mit mir, wenn du dich stark fühlst, aber ich sage dir jetzt schon, dass du dir dabei die Finger verbrennen wirst, mein Lieber ...
Ihre Haut war gesund gebräunt und hatte Make-up nicht nötig, der Mund war kaum geschminkt. Trotzdem wirkte sie ganz als „femme fatale“, was sie nur zu genau wusste und sie, normalerweise, nicht wenig zu amüsieren schien.
Im Augenblick war ihr allerdings von Amüsement herzlich wenig anzumerken, als sie den Inspector unpersönlich anblickte und leise sagte:
„Sie sehen wie ein Mann aus, der seinen Job aus dem Effeff versteht, und wenn Sie sagen: Selbstmord, dann ...“
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