»Sieh«, flüstert Sam freudig. Ihr Herz beginnt aufgeregt zu schlagen, als sie Neves bebende Augenlider sehen kann. Mit Neves Hand in ihrer eigenen, rutscht Precious zu Neves Kopf hoch und schaut ihr direkt in das Gesicht.
»Mummy?« Ihre Stimme ertönt ganz leise. Sie will ihre Mutter nicht erschrecken.
Als wenn sie auf Precious gehört hätte, öffnet Neve ganz langsam die Augen. Genau wie letzte Nacht huschen ihre Augen wild hin und her, bis sie bei Precious stehen bleiben. Auch wenn Sam sich gerne hinter Precious stellen und Neve zeigen möchte, dass sie ebenfalls da ist, verdrängt sie diese egoistische Handlung und tritt stattdessen einen Schritt zurück. Dieser Augenblick soll nur den beiden gehören. Schließlich ist sie lernfähig.
»Hallo Mummy«, haucht Precious. Ihr ganzes Gesicht strahlt, als Neve sie schwach aber mit relativ offenen Augen anschaut. Neve schluckt schwer. Ihr Blick ruht auf ihrer Tochter. Ihre Augen beginnen ganz langsam zu leuchten, Sam kann es sehen. Etwas was ihr Herz höherschlagen lässt.
»Precious.« Neves Stimme ertönt leise und kraftlos hinter der Maske. Erschrocken und schon fast geschockt, schlägt sich Sam eine Hand vor den Mund, nur um nicht vor Freude zu quieken. Neve hat es tatsächlich geschafft zu reden. Sie hat Kräfte mobilisiert, die eigentlich noch gar nicht da sind, nur um ihre Tochter zu begrüßen.
Tränen steigen in Sam auf. Das ist alles zu schön um wahr zu sein. Das muss alles ein Traum sein. Wahrscheinlich wacht sie gleich auf und stellt fest, dass sie wieder mal alles nur geträumt hat.
»Hallo Mummy«, freut sich Precious überschwänglich und drückt ihrer Mutter zahllose Küsse auf die Stirn. Dann zeigt sie zur Seite.
»Mommy ist auch hier«, bindet sie Sam mit in diese Begrüßung. Auch wenn Sam das eigentlich nicht wollte, tritt sie dennoch in Neves Blickfeld. Dieses kleine Aufeinandertreffen sollte wirklich nur Precious und Neve gehören. Die kleine Maus scheint aber ihren eigenen Plan zu haben.
Schwach hebt Neve den Blick und schaut zu Sam hoch. Die Südländerin könnte vor Glück und Freude heulen, weil sie ihrer Frau in die Augen blicken kann, verbietet sich diesen Gefühlsausbruch aber.
Neve schaut mit zittrigen Augen zu ihr hoch. Ihr Blick wird matt, er bekommt einen zerstreuten Ausdruck. Nach und nach legt sich ihre Stirn ganz langsam in mickrige Falten. Nachdenklich schaut sie Sam an, bis sie schwer ausatmet. Die Maske beschlägt, ihre Augen fallen zu. Sie bleiben geschlossen.
***
Die nächsten Tage ändert sich nichts an diesem Zustand. Neve kann nur für wenige Momente ihre Augen offenhalten. Etwas was selbst der behandelnde Arzt ungewöhnlich findet. Aber alle neu gemachten Tests erbringen gute Ergebnisse. Medizinisch betrachtet ist Neve auf dem besten Weg einer unkomplizierten Genesung, nur scheint ihre körperliche Kraft noch nicht zurückgekehrt zu sein. Der Arzt beruhigt Sams Sorge damit, dass die Wochen vor Neves Zusammenbruch offensichtlich zu anstrengend für ihren Körper waren und dieser sich nun ganz langsam von diesen Strapazen erholt. Etwas was Sam ganz und gar nachvollziehen kann.
Laura und die anderen rennen ihr auch schon seit Tagen hinterher, weil sie Neve endlich sehen wollen, aber die Südländerin schafft es irgendwie immer wieder die Hunde zurückzuhalten. Mit aller größten Mühe, aber sie schafft es. Sie konnte ja nicht wissen, dass sie am heutigen Tag etwas Rückendeckung gebrauchen könnte. Sie strauchelt nämlich einen Schritt zurück, als sie den behandelnden Arzt an Neves Bett stehen sieht. Ihre Frau ist wach und hört dem Arzt angestrengt zu. Es muss sie enorm viel Kraft kosten. Sam kann die Anstrengung in Neves Gesicht sehen.
Leise betritt Sam das Zimmer, begrüßt den Arzt mit einem kurzen Nicken, der das Gespräch in diesem Moment beendet. Er wirft Sam noch einen kurzen Blick zu, schaut ein letztes Mal zu den Monitoren und verlässt danach das Zimmer.
Wie angewurzelt bleibt Sam vorerst stehen, geht dann aber näher an das Bett heran und umgreift Neves Hand. Ohne bisher Notiz von ihr genommen zu haben, blickt Neve mit kleinen aber offenen Augen zu der Zimmertür zurück. Dann entzieht sie sich der Hand ihrer Frau, indem sie ihre eigene langsam zurückzieht. Verwundert schaut Sam zu den Händen zurück, die mit einer unfassbaren Entfernung zueinander auf der Matratze liegen.
Ist es eingetreten? Ist das passiert was ihr der Arzt nach der OP erklärt hat? Erkennt Neve sie im Augenblick noch nicht wieder? Wird sie noch ein paar Tage brauchen, bis sie weiß wer diese Frau an ihrem Bett ist? Weiß Neve überhaupt was gerade passiert?
»Sechs Wochen.« Neves Stimme klingt ebenso leise und kraftlos wie vor ein paar Tagen, als sie ihre Tochter begrüßte. Sie legt den Kopf zur Seite und schaut Sam direkt an. Sie schaut ihr ganz genau in die Augen.
»Sechs Wochen, Sam.« Sams Herz beginnt vor Freude aufgeregt zu hüpfen. Neve erkennt sie. Neve weiß wer sie ist.
»Ich wollte das nicht, Sam.« Angestrengt holt Neve tief Luft. Die Beatmungsmaschine hilft ihr dabei rettenden Sauerstoff in ihre Lungen zu füllen.
»Sechs Wochen habt ihr um mich gebangt und …«, wieder holt Neve tief Luft »und seid durch die Hölle gegangen.« Wo nimmt diese Frau nur die Kraft her, um so deutlich reden zu können?
»Das war mein freier Wille, Sam.« Die Maschine geht ihrer Arbeit nach und transportiert Sauerstoff in Neves Körper.
Sam kann nicht glauben, dass Neve redet. Dass sie tatsächlich so viele Sätze hintereinander aussprechen kann. Dennoch wandern ihre Augen verunsichert durch das Zimmer. Sie spürt, wie Neve ihr in diesem Augenblick den Arsch bis zum Pluto aufreißt. Sie braucht nur ein paar Worte zu nutzen und dennoch blutet Sam aus dem Arsch, wie das Wasser die Niagarafälle hinunterfließt.
Sie sieht ein kleines Röhrchen auf dem Tisch neben Neves Bett stehen. Dort befinden sich die Überreste des Stents, der ihrer Frau eingepflanzt wurde. Das Ding was sie töten sollte. Das Ding das nur entfernt werden konnte, weil Neves Herz … . Neve weiß also was passiert ist. Dass sie ein fremdes Herz in ihrem Brustkorb trägt. Dass genau das passiert ist, was sie nicht wollte.
»Sam, wenn das Schicksal … .«
»Nein!« Auch wenn es das Schlimmste ist was Sam im Augenblick machen kann und tatsächlich eine Diskussion mit ihrer Frau beginnt, wagt sie diesen Schritt. Sie tritt ganz an das Bett heran, beugt sich über ihre Frau, schaut ihr direkt in die Augen und umgreift ihr Gesicht.
»Ja, ich war egoistisch! Und ja, ich habe auch ebenso verdammt egoistisch gehandelt. Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe - dass ich deinen Wunsch ignoriert habe. Aber ich konnte und wollte dich nicht gehen lassen, unter keinen Umständen. Glaube mir, dein Tod wäre für uns alle qualvoller gewesen, als die letzten Wochen.« Mit Tränenuntersetzten Augen blickt Neve zu ihr hoch.
»Sam«, sie holt tief Luft »ich liebe dich so sehr … so sehr.« Die Maschine geht gewissenhaft ihrer Arbeit nach. Das Geräusch macht Sam nervös.
»Aber … .«
»Nein Neve. Ich erwarte und verlange von dir, dass du mir noch mindestens die nächsten dreißig Jahre auf die Nerven gehst. Dass du als alter, schrumpeliger, ergrauter und tattriger Greis eines natürlichen Todes stirbst. Du wirst weder durch eine Kugel, noch durch Gift, noch durch irgendetwas anderes sterben. Dafür werde ich sorgen.« Neve versucht sich unter der Maske an einem schwachen Lächeln.
»Wann hörst du endlich auf«, sie atmet tief ein »so unmöglich zu sein?«
»Dann, wenn du aufhörst mich zu lieben.«
»Das wird niemals passieren.« Mit einem süßen Lächeln zwinkert Sam ihrer Frau zuversichtlich zu.
»Dann ist das Thema hiermit beendet«, flüstert sie und haucht Neve einen Kuss auf die Stirn.
»Ich bin so müde«, murmelt Neve leise.
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