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Mit leuchtend großen Augen steht Precious am Nachmittag neben Neves Bett. Auch wenn Sam ihr sagte, dass es nicht sicher sei, ob Mummy wach wäre, wollte die kleine Maus zu ihrer Mutter. Sie wollte sie einfach sehen, mehr nicht.
»Mummy hat den Schlauch gar nicht mehr im Mund«, stellt sie erstaunt fest. Sam tritt hinter sie und streicht ihr zaghaft über den Kopf. Ihre Augen verweilen auf Neve, die noch immer mit dem Kopf zur Seite gedreht, schläft und nichts von dem kleinen Besuch mitbekommt.
»Nein, den braucht sie jetzt auch nicht mehr. Sie kann wieder alleine atmen. Sie wird aber noch sehr lange diese Maske tragen müssen, die ihr beim atmen hilft.« Neugierig blickt Precious zu ihr hoch.
»Warum?« Wie mittlerweile gewohnt, setzt sich Sam auf den Stuhl und zieht Precious auf ihren Schoß.
»Manchmal fühlt man sich morgens beim aufstehen doch immer total schlapp und ohne Kraft, oder?« Precious nickt interessiert.
»Das ist, wenn sich die Muskeln im Körper während des Schlafs entspannt haben. Dann fehlt ihnen die nötige Kraft, um richtig zu arbeiten. Und weil Mummys Atemmuskulatur die letzten Wochen nicht alleine arbeiten konnten, sondern das die Maschine für sie übernahm, sind Mummys Muskeln jetzt natürlich kleiner und schwächer geworden. Mummy muss die Muskeln erst wieder trainieren und ihnen zeigen, wie man atmet. Das kann einige Wochen dauern.«
»Wow«, haucht Precious fasziniert und blickt zu ihrer Mutter zurück, die sich von ihrem Schönheitsschlaf nicht ablenken lässt.
»Precious?«
»Ja?« Mit dem Blick auf ihre Mutter gerichtet, lässt sich die Maus nicht davon abhalten Neve zu beobachten.
»Du weißt doch was Mummy gearbeitet hat, bevor sie krank geworden ist, nicht wahr?« Precious nickt.
»Und du weißt auch, was ich arbeite, richtig?« Wieder nickt Precious.
»Was möchtest du denn später mal arbeiten, wenn du groß bist?« Precious rutscht auf Sams Schoß hin und her und zerquetscht ihr dabei fast die Oberschenkelmuskeln.
»Ich möchte Polizistin werden. So wie Mummy.« Plötzlich schmerzen die Oberschenkel gar nicht mehr. Im Gegenteil, alles in Sams Körper fühlt sich mit einem Mal taub und regelrecht tot an. Sam weiß nicht wie sie mit dieser Antwort umgehen soll. Ein Teil ihres Traums von letzter Nacht soll tatsächlich wahr werden? Precious will wirklich Polizistin werden? Ist das ihr Ernst?
Sam kann sich irgendwie nicht so recht für die berufliche Zukunft ihrer Tochter freuen, auch wenn sie weiß, dass es eigentlich das Richtige ist. Aber nach diesem Traum fühlt sich für Sam so einiges nicht mehr richtig an.
Selbst der Gefühlsausbruch den sie die Nacht bei Neve hatte, fühlte sich nicht richtig an. Zurückhalten konnte sie ihn dennoch nicht. Sie weiß, dass sie einfach nicht ohne Neve sein kann. Sie dann aber mit offenen Augen zu sehen und zu wissen, dass Neve weiterleben wird, ließ alles in ihr zusammenbrechen. Sie war in diesem Augenblick genau das was Neve ihr sagte - was Precious ihr im Traum mitteilte: Sie war egoistisch. Auch die Affäre mit Jessica zeigt das was Neve mit ihren letzten Worten sagte: Sam ist ein verdammter Egoist. Immer denkt sie nur an sich, ohne an ihre Mitmenschen, oder an die Folgen ihrer Entscheidungen zu denken. Für sie gilt immer nur das, was sie denkt und glaubt. Alles andere kommt erst später.
Ihr ist bewusst, dass sie ihrer Frau vergangene Nacht eine gewaltige Last an Verantwortung überlassen hat. Wenn Neve nicht wieder auf die Beine kommt, würde Sam ihr Versprechen nicht halten können und ihrer Frau in den Tod folgen. Es wäre wieder einmal eine egoistische Handlung, mit der sie die Kinder alleine lassen würde. Es ist jetzt aber ausgesprochen und rückgängig kann sie den Gefühlsausbruch nicht mehr machen. Sie kann jetzt nur hoffen, dass Neves Gehirn zu benebelt war, als dass sie wusste was um sie herum geschah und welche Worte Sam aussprach.
»Mummys Finger bewegt sich«, quiekt Precious ganz leise. Hektisch springt sie von Sams Schoß und tritt an das Bett. Auch wenn Sam diese kleine Bewegung nicht gesehen hat, glaubt sie ihrer Tochter. Precious wird sich das nicht eingebildet haben.
Erfreut beobachtet sie die Maus dabei, wie sie Neves Hand umgreift.
»Mummy«, flüstert sie leise und blickt zu ihrer Mutter hoch. Sechs Wochen musste Precious mit ansehen, wie ihre Mutter regungslos im Bett lag und sich nicht bewegte. Die paar Zuckungen ihrer Muskeln wurden für Precious zur Gewohnheit. Sie verlor irgendwann die Hoffnung ihre Mutter würde aufwachen, weil sie verstand, dass das ohne einem neuen Herzen nicht passieren würde. Jetzt aber schlägt dieses neue Herz in Neves Brust und arbeitet daran, zum Alltag zurückzukehren.
Mit einem brummenden Laut dreht Neve den Kopf gerade. Sie beginnt schwerer zu atmen. Sam tritt ebenfalls an das Bett und beobachtet ihre Frau kritisch. Sie muss wohl träumen. Die Gesichtszüge der älteren Frau verhärten sich.
»Mummy drückt meine Hand«, flüstert Precious und blickt zu den beiden Händen hinunter. Sam schaut dort ebenfalls hin. Sie behält Neves Hand im Auge. Sie will nicht, dass Neve ihrer Tochter unbewusst wehtut und deren Hand eventuell zu stark drückt.
Die brummenden Laute gehen weiter. Die Atmung steigt. Die Maske beschlägt mit jedem ausatmen.
»Was hat Mummy?«, haucht Precious vorsichtig, nur um Neve nicht zu erschrecken.
»Ich denke, dass sie träumt«, antwortet Sam ebenso leise. Ihre Augen verweilen auf den Monitoren die Neves Vitalfunktionen überprüfen. Bis auf einen leicht erhöhten Herzschlag kann sie nichts Außergewöhnliches erkennen.
»Ich sage den Schwestern Bescheid.« Ohne darüber nachzudenken, dass sie Precious alleine bei ihrer Mutter lässt die ihre Handlungen noch keineswegs unter Kontrolle hat, verlässt Sam das Zimmer und eilt an den Tresen der Intensivstation. Nicht mal eine Minute später kehrt sie mit einer Schwester zurück, die mit Sicherheit froh sein wird, wenn Neve diese Station verlässt. Nicht wegen ihr als Patientin, sondern wegen ihrer viel zu besorgten und nervenden Frau.
Die Schwester kontrolliert sämtliche Geräte und Maschinen und würde am liebsten die Schultern zucken, beherrscht sich aber. Anstatt mit Sam zu reden, spricht sie bewusst Precious an.
»Deiner Mummy geht es gut. Sie träumt bloß. Es kann sein, dass sie stark zu schwitzen anfängt, aber das gehört zum aufwachen dazu. Mummys Körper muss sich langsam wieder an alles gewöhnen und das ist nach so langer Zeit nicht immer einfach. Verstehst du das?« Wissbegierig lauscht Precious der Schwester mit großen Augen und schaut neugierig zu ihrer Mutter zurück.
»Ja. Wie lange dauert es dann aber noch, bis Mummy wach ist?«
»Das kann niemand so genau sagen. Wenn sie aufwacht, wird sie nur für ein paar Minuten die Augen öffnen können, weil ihr Körper noch zu schwach ist. Sie wird noch sehr viel schlafen. Aber von Tag zu Tag wird das besser, bis sie irgendwann wieder ganz lange wach bleiben wird. Einige Patienten schaffen das schon nach drei Tagen und andere brauchen bis zu zwei Wochen dafür. Es kommt also ganz auf den Menschen alleine an.«
»Ok.« Verständnisvoll nickt Precious und schaut weiterhin zu ihrer Mutter, während die Schwester der Südländerin einen genervten Blick zuwirft und danach das Zimmer verlässt. Sam weiß selbst, dass sie nervt. Aber muss man das gleich so deutlich zum Ausdruck bringen?
»Alles gut, Mummy.« Precious' Stimme ertönt so ruhig, dass Sam überrascht zu ihr zurückblickt. Ihre kleine Hand liegt vorsichtig um Neves Wange, während die andere noch immer die Hand ihrer Mutter hält. Precious' Hand streichelt sanft Neves Wange. Schon nach einigen Sekunden wird Neves Atmung ruhiger und gleichmäßiger. Sam glaubt sich das einzubilden und blickt zu einem der Monitore zurück. Aber auch die Technik zeigt ihr an, dass sich Neves Herzschlag normalisiert. Und weil Precious das natürlich auch nicht entgeht, lächelt sie stolz zu Sam hoch, schaut dann aber wieder zu Neve zurück, die mit jedem Atemzug ruhiger wird, bis ihr Kopf auf die Seite rollt. Sie atmet wieder geregelter und lockert auch den Griff um Precious' Hand. Dennoch verbleiben die kleinen Finger in der großen Hand der älteren Frau, die irgendwie versucht ins Leben zurückzukehren.
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