»Wahrscheinlich ist er nicht katholisch.« Mrs. Laurent legte ihren Arm um Lucías Schulter und sagte:
»Vielleicht haben wir ja Masel tov und in ein paar Jahren kannst du dann Weihnachten koscheres Essen kochen.«
»Ist die Familie jüdisch?«, wollte der Vater von Mrs. Laurent wissen. Emys Mutter schüttelte ihren Kopf.
»Seine Frau war es, Dr. Bishop nicht. Aber darüber müssen wir uns erst Gedanken machen, wenn Emy regelmäßig eine Synagoge besucht.«
Mrs. Reeves sagte: »Übertreibt doch nicht alle. Nur, weil sie mit dem Jungen Mitleid hatte, heißt das doch noch lange nicht, dass sie mit ihm befreundet sein will. Und außerdem hat sie doch ihren Freund aus ihrer Schule.«
»Mutter, du hättest sie gestern sehen sollen. Sie war so fixiert auf den Jungen, ich dachte schon, sie ruft euch noch in der Nacht an, um euch heute zur Verlobung einzuladen. Aber die Verlobung fiel dann aus, weil sie vor dem Frühstück zu ihm gegangen ist.«
»Warum das denn?« Mrs. Reeves schaute ihre Tochter fragend an.
»Wenn ich das wüsste.« Mrs. Laurent leckte einen Löffel ab, den sie aus einer Schüssel unter Protest von Lucía weggenommen hatte. Mr. Reeves schien die Unterhaltung nicht sehr zu interessieren. Sein Kommentar sorgte bei allen in der Küche anwesenden Frauen für ein kurzes Innehalten. Er sagte nur:
»Dann sollten wir den Jungen anrufen und ihn zum Essen mit seinem Vater einladen.“
»Dad!« Mrs. Laurent schaute zu ihrem Vater. »Die sind auf dem Weg zu ihrer Familie nach Kalifornien.«
»Schade, ich hätte den Jungen gerne kennengelernt.« Mathis kam in die Küche.
»Mum, ich hatte euch ja gebeten, mir in diesem Jahr nichts zu Weihnachten zu schenken.«
»Ja«, antwortete Mrs. Laurent auf den Vortrag ihres Sohnes.
»Jetzt habt ihr mir ja die Jacke geschenkt, was so nicht abgesprochen war.« Wieder gab es ein »ja« von seiner Mutter. »Ich hatte mir gedacht, ihr könnt mir die neuen SD-Karten für meine Kamera bezahlen, die ich mir gekauft habe. Ich habe natürlich die Rechnung aufgehoben und so könnt ihr das für eure Steuererklärung verwenden.«
»Oh, mein Sohn, er ist so schlau. Hier steht einer der gefürchtetsten Strafverfolger der Stadt New York in der Küche und mein Sohn will mich in Steuerbetrügereien verwickeln.« Mathis schaute seinen Opa an und fragte:
»Du bist doch im Ruhestand?« Alle lachten und Mr. Reeves machte mit seiner Hand eine winkende Bewegung.
»Mathis!« Mrs. Laurent nahm ihren Sohn an beiden Schultern. »Weihnachtsgeschenke funktionieren doch nur durch Überraschung. Das bedeutet aber nicht, dass der Beschenkte den Schenkenden überrascht.«
»Wie teuer waren denn deine Karten?«, wollte Mr. Reeves von seinem Enkel wissen.
»Naja, 125 Dollar.«
»Dann bekommst du das Geld von mir und ich kann die Rechnung bei der Steuer angeben.« Wieder lachten alle. Mathis und sein Großvater gingen in das Wohnzimmer.
»Machst du dir Sorgen um Emy?«, erkundigte sich Mrs. Laurents Mutter bei ihrer Tochter.
»Nein, Sorgen mache ich mir nicht. Aber Emy ist seit gestern Abend schon etwas verstört.«
»Naja, so eine Geschichte muss ein junger Mensch erst einmal verarbeiten.«
»Ja, Mutter, aber sie kannte den Jungen nur von der Schule, vom Sehen. Heute Morgen hat sie unser Schlafzimmer gestürmt, um von Maximilian die Telefonnummer von Dr. Bishop zu bekommen. Quasi mitten in der Nacht.«
»Was ist der Junge denn für ein Typ?« Mrs. Reeves schaute ihre Tochter fragend an, die eine Grimasse zog und dabei den Kopf hin und her bewegte.
»Kann ich dir nicht sagen, Mutter, er war sehr ruhig. Aber wie soll er auch sein, wenn er gerade von Emy vom Eis entführt wurde? Er war sicher mit der Situation überfordert. Er strahlt so eine bemitleidenswerte Unsicherheit aus. Aber das ist für Mädchen wie Emy noch gefährlicher als Boy Bands, Welpen oder Pferde.«
Mrs. Reeves hatte sich schon immer über ihre Tochter gewundert, wie sie mit wenigen Worten Verwirrung stiften konnte. Aber sie wusste, dass sie nie eine Situation dramatischer empfand oder darstellte als sie wirklich war.
»Wie sieht er denn aus, der Ethan?«
»Oh, Mum!« Mrs. Laurent zog ihre Schultern hoch und breitete ihre Arme aus. »Ein jüdischer Junge, der im Kippakatalog sicher auf der Titelseite erscheinen würde. Schlank, sportlich, lange schwarze Haare, ein süßer Teenager. Mit einem Wort: Gefährlich.«
»Emy hat aber noch ihren Freund?« Mrs. Reeves schaute Emys Mutter immer noch an.
»Ja, bis gestern schon, heute habe ich sie aber noch nicht gefragt.«
»Mary, bitte.« Mrs. Reeves warf ihrer Tochter einen disziplinierenden Blick zu.
»Ja, Mutter, aber sie ist sechzehn und da ändern sich solche Dinge ganz schnell. Vor zwei Jahren wollte sie noch die Bären im Zoo pflegen, in diesem Jahr wollte sie die Tiere mit einer Aktivistengruppe befreien. Nur weil keiner in der Gruppe einen Plan hatte, wie man Bären befreit und sie unterbringt, wurde das Vorhaben verworfen. Du weißt doch, dass Emy gerne hilft, auch dann, wenn dem zu Helfenden gar nicht zu helfen ist. Lass uns zurück in das Wohnzimmer gehen.«
Dr. Laurent saß auf der großen Couch und unterhielt sich mit seinem Schwiegervater. Mathis erklärte Lucía seine Kamera. Lucía machte immer wieder »Ah« und »oh«, ohne das Geringste zu verstehen, was ihr Mathis gerade erklärte. Emy hatte sich auf den Boden gesetzt und lehnte mit dem Rücken an der Couch und schaute irgendetwas im Fernsehen.
Ethan wachte auf und schaute zu seinem Vater, der in einer Zeitschrift las.
»Dad.«
»Ja, Ethan?«
»Können wir nicht woanders wohnen, also vielleicht woanders in New York? Ich möchte nicht wieder in unsere alte Wohnung.« Dr. Bishop legte die Zeitschrift auf den leeren Mittelsitz und drehte sich seitlich zu ihm.
»Naja, es ist nicht so einfach, eine Wohnung in New York zu finden. Und unsere müsste ja dann verkauft werden oder wir müssten einen Mieter suchen. Schnell würde das nicht gehen. Mum hat die Wohnung von ihren Eltern geerbt und hätte sie nie weggegeben.«
»Aber Mum ist nicht mehr bei uns und die Wohnung ohne Mum ist schrecklich.«
»Ich verstehe«, sprach Dr. Bishop zu seinem Sohn. »Aber wir müssen es einfach versuchen. Wir müssen sehen, was ist, wenn Marcia mit zurück ist und möglicherweise hängt sie an der Wohnung. Wir brauchen Zeit, um zu sehen, wie wir alle damit klarkommen.« Ethan resignierte und ärgerte sich über sich selber, weil er dieses Thema angesprochen hatte. »Schlaf noch etwas«, sagte Dr. Bishop zu seinem Sohn, »wir landen erst in zwei Stunden.« Ethan drehte seinen Kopf wieder zum Fenster und schaute hinaus.
Emys Großeltern hatten sich verabschiedet. Dr. Laurent brachte sie nach Hause. Mathis hatte sich bereit erklärt mitzufahren, wenn sein Vater eine der beiden Adressen anfuhr, die auf seiner Hose zu erkennen waren.
»Na, Emy.« Mrs. Laurent setzte sich zu ihrer Tochter auf den Boden und klatschte ihr sachte auf das Knie. »Wie war dein Tag?«
»Mum?« Emy sah ihre Mutter fragend an.
»Ja, ich weiß, du bist den ganzen Abend hier. Aber du warst nicht bei uns.«
» Doch, es war ein wunderschöner Tag, Mum.«
»Was hatte deine Grandma für Schuhe an?«, wollte Mrs. Laurent von Emy wissen.
»Da habe ich nicht drauf geachtet.« Mrs. Laurent lächelte und strich ihrer Tochter mit gespreizten Fingern durchs Haar.
»Emy, beschäftigt dich der Junge?«
»Mum, er hört klassische Musik und in der Wohnung bei ihm lagen zwei Geschenke, die einfach so dahingelegt waren. Er hatte Shorts an, die viel zu groß waren. Er ist so traurig und ich wollte ihm nur helfen.«
»Emy, Emy«, unterbrach Mrs. Laurent ihre Tochter, die immer schneller zu sprechen begann. »Er ist heute bei seiner Familie in Kalifornien und dort ist er nicht alleine. Du hast ihm doch geholfen. Du warst da, als er dich oder irgendeinen Menschen gebraucht hat. Steigere dich da nicht so rein. Du hast das getan, was du in der Situation für ihn tun konntest. Ethan ist schwer angeschlagen. Du musst ihn kennenlernen, wenn er wieder normal denken kann. Ich will doch nur, dass du nicht in eine Situation gerätst, die dir später Sorgen bereitet.«
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