»Was erledigen?«, wollte Lucía wissen und verfolgte Emy in ihr Zimmer.
»Ja, ich bringe dem jungen Señor seine Schlittschuhe, die er vergessen hat.«
»Seine Schlittschuhe?« Lucía konnte es nicht glauben. »Will er heute schon wieder fahren?«
»Nein, wahrscheinlich nicht, aber vielleicht doch. Da ich es nicht weiß, bringe ich sie ihm.«
»Was soll ich deinen Eltern sagen, wenn sie dich suchen?«
»Die wissen Bescheid.« Emy nahm sich die Schlittschuhe und machte sich auf den Weg in Richtung 72.
Emy stand vor dem Haus, in dem Ethan wohnte. Der Concierge begrüßte sie freundlich und wünschte ihr frohe Weihnachten. Emy holte einmal tief Luft, nachdem sie die Klingel gedrückt hatte. Die Tür öffnete sich und Dr. Bishop stand vor Emy. Er hielt in der einen Hand ein Telefon, welches er an seine Brust drückte, die andere Hand reichte er ihr und zog sie sanft in die Wohnung.
»Guten Morgen, Emy. Ich muss schnell noch ein Telefonat erledigen. Komm rein, Ethan kommt gleich. Ethan!« Dr. Bishop rief den Namen seines Sohns laut und lang. Er nickte ihr zu und verschwand in einem der Zimmer. Sie stand in dem Flur der Wohnung. Am Ende war ein riesiges, großes Fenster. Links und rechts waren Türen, die in die anderen Räume der Wohnung führten. In der Mitte des Raumes stand ein langer Tisch aus hellem Holz mit jeweils drei Stühlen an den Längsseiten und zwei an den Kopfseiten. Der Flur war dezent eingerichtet. Unter dem Fenster lagen zwei große in Weihnachtspapier eingewickelte Pakete. Geschenke, dachte Emy. Sie lagen so verlassen und unpersönlich da, als hätte sie jemand dort vergessen oder einfach nur abgelegt. Die zwei Pakete waren das einzige, was in diesem Raum an Weihnachten erinnerte.
Die hintere rechte Tür ging auf und der Junge kam in den Flur.
»Emy?«, fragte er sichtlich erstaunt.
Sie sah ihn nickend an. Er trug karierte Shorts, die wohl eine Nummer zu groß waren und ein T-Shirt mit einem Schriftzug in deutscher Sprache.
»Guten Morgen, Ethan, ich bringe dir deine Schlittschuhe. Du hast sie gestern vergessen.«
»Oh, ja, das ist cool. Aber du hättest dir nicht die Mühe machen müssen.« Er nahm ihr die Schlittschuhe ab und legte sie in die Ecke. Dann zog er einen Stuhl von dem großen Tisch und lud sie mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen. Er nahm ihr gegenüber Platz.
»Eine schöne Wohnung habt ihr hier.« Sie schaute sich mit einer großen Geste in dem Raum um.
»Du meinst, einen schönen Flur.« Emy lachte. Erst jetzt bemerkte sie, dass vereinzelt Umzugskartons übereinandergestapelt dastanden. »Ihr seid noch nicht ganz fertig mit einräumen.«
Ethan blies seine Backen auf, lehnte sich weit nach hinten und sagte: »Eigentlich schon, aber so richtig interessiert es keinen. Vielleicht nach den Ferien.«
»Ach ja?« Sie achtete sehr darauf, das sensible Thema zu vermeiden. »Du wirst ja heute schon unter der Sonne Kaliforniens wandeln.«
Er nickte. »Wir fliegen heute Nachmittag, aber erst müssen wir zum JFK, meine Mum kommt an. Wir fahren mit ihr zum Mount Hebron, danach wieder zurück zum Airport, und fliegen dann zu meinen Verwandten.«
Emy spürte den Kloß in ihrem Hals und bemühte sich angestrengt, das nicht zu zeigen.
»Wann kommt ihr zurück?« Emy erschrak sich über den Klang ihrer eigenen Stimme.
»Am dritten Januar kommen wir alle nach New York zurück. Am vierten ist dann die Beerdigung von Mum und am fünften müssen wir ja wieder in die Schule.« Er holte tief Luft und Emy merkte, wie es dem Jungen schwerfiel, über das Thema zu sprechen. Dr. Bishop kam aus dem Zimmer zurück, in das er zum Telefonieren gegangen war.
»Guten Morgen, Ethan, wollen wir alle drei frühstücken gehen?« Dr. Bishop breitete seine Arme zu einer fragenden Geste aus und schaute die beiden an.
»Oh, nein, das ist nett, aber ich habe meiner Familie versprochen, zum Frühstück wieder da zu sein«, log Emy. »Ich will Sie auch nicht weiter stören.«
Sie hatte den Satz gerade beendet, als das Telefon klingelte, welches Dr. Bishop immer noch in der Hand hielt. Dr. Bishop meldete sich am Telefon.
»Ja, einen Moment bitte.« Er zeigte auf das Telefon und ging wieder in Richtung des Zimmers, aus dem er gerade gekommen war.
»Er ist ganz schön beschäftigt«, sprach Emy leise in Ethans Richtung.
»Ja, er ist normalerweise um die Zeit gar nicht zu Hause. Das ist etwas verwirrend, ihn bei Tageslicht in der Wohnung zu sehen.«
»Ethan.« Dr. Bishop war zurück. »Das Flugzeug mit Mum ist gelandet.«
Emy schnürte es die Luft ab. Sie sah, wie Ethan den Kopf senkte und leise »ja« sagte. Dr. Bishop stellte sich neben seinen Sohn, schaute auf ihn hinab und legte seine Hand auf seine Schulter.
»Ich werde dann gehen.« Sie stand auf und hoffte, nicht zu stolpern.
Dr. Bishop unterbrach die Stille. »Danke, Emy, und viele Grüße an deine Familie. Wir wünschen euch ein schönes Weihnachtsfest.« Er drehte sich langsam um und ging wieder in Richtung Tür, aus der er gerade gekommen war. Ethan saß immer noch auf seinem Stuhl. Sie schaute über ihn in Richtung Fenster und sah wieder die zwei Pakete, die dort lagen. Sie spürte, wie in ihr Traurigkeit aufstieg.
»Ethan, ich weiß nicht, wie man sich in so einer Situation richtig verhält. Es tut mir so leid und ich würde gerne etwas tun, aber ich weiß nicht, was.« Er stand auf und lächelte sie an.
»Naja, du hast mir ja die Schlittschuhe gebracht.« Er lächelte immer noch.
»Ok, ich werde jetzt gehen.« Emy drehte sich langsam um.
»Ja, danke, dass du vorbeigekommen bist.« Sie hatte die Tür schon geöffnet und war schon fast draußen. Sie ging die zwei Schritte zurück und stand genau vor ihm. Sie nahm ihn in beide Arme, drückte ihn und sagte:
»Alles Gute, Ethan, ich werde den ganzen Tag an dich denken.« Emy ließ ihn los, drehte sich um und ging sehr schnell aus der Wohnung. Bis zum Fahrstuhl schaffte sie es, ohne zu schluchzen. Dann war es egal. Hier konnte sie Ethan nicht mehr sehen. Sie wunderte und ärgerte sich über sich selbst. Warum berührt mich das alles? Ich kenne ihn doch gar nicht. Kenne ihn gar nicht, wiederholten sich die Worte in ihrem Kopf.
Dr. Bishop hatte den Fahrdienst seiner Klinik bestellt, um zum Flughafen zu fahren. Er und sein Sohn saßen hinten im Wagen. Beide schauten stumm aus dem Fenster. Als sie am JFK die verschiedenen Gates abfuhren, beobachtete er das Treiben. Der Wagen wurde langsamer und bog in ein Tor ab, welches zum Innenraum des Gates führte. Ethan sah sofort den großen schwarzen Wagen, der ringsum getönte Scheiben hatte.
»Ist das Mum?«, fragte er erschrocken seinen Vater. Dr. Bishop griff nach der Hand seines Sohns.
»Nein, sie ist noch in der Halle. Dort holen wir sie gleich ab.« Er drehte sich zu dem schwarzen Wagen um, der wartend dort stand. Der Fahrer, der die Bishops zum Flughafen gebracht hatte, drehte sich zu den beiden um.
»Herr Doktor, soll ich auf Sie warten?«
»Ja«, antwortete Dr. Bishop schnell, »wir sind in etwa zwanzig Minuten wieder da. Wollen wir?«, fragte Dr. Bishop seinen Sohn, immer noch seine Hand haltend. Ethan nickte seinem Vater zu und öffnete die Tür des Wagens. Am Eingang der wie ein Lager aussehenden Halle stand ein kleiner Mann im Anzug. Er begrüßte Dr. Bishop und Ethan schnörkellos und bat sie, mit ihm zu kommen. Keiner sprach ein Wort. Ethan schnürte es den Magen zu. Er wollte eigentlich stehen bleiben und seinem Vater sagen, er komme nicht mit. Sie betraten durch eine Stahltür einen großen, hell erleuchteten Raum, in dessen Mitte der Sarg mit Mrs. Bishop stand. Ethan sah den schmucklosen Kasten aus Edelstahl, der wie ein Case aussah. Er stoppte kurz, ging dann auf den Sarg seiner Mutter zu und sagte leise:
»Mum«. Dr. Bishop stellte sich dicht neben seinen Sohn und legte seine Hand auf dessen Schulter. Beide schauten schweigende nach unten. Der Mann, der sie zu dem Raum begleitet hatte, fragte leise:
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