»Dr. Bishop, würden sie bitte die Dokumente unterschreiben?« Er wies mit seiner rechten Hand in Richtung Schreibtisch, der in der hinteren Ecke stand.
»Kommst du…?«
»Nein.« Ethan unterbrach die Frage seines Vaters. Dr. Bishop nickte und folgte dem Mann alleine zu dessen Schreibtisch. Der Doktor setzte sich mit dem Rücken zugewandt zu Ethan an den Tisch und begann, mit dem Mann zu reden. Ethan ging einen Schritt näher an den Sarg. Er legte zwei Finger seiner rechten Hand behutsam auf das kalte Metall.
Der Tag, an dem Mrs. Bishop verunglückte, begann in München ausgelassen. Dr. Bishop war wie immer früh in das Krankenhaus gefahren. Mrs. Bishop hatte die Kinder geweckt. Marcia saß schon am Tisch in der Küche. Die Küche war das Zentrum der Münchner Wohnung. Sie war kleiner als die in New York, aber die Familie hatte sich gemütlich eingerichtet, für ihre Zeit in München. Hier in der Küche traf sich die Familie und hier wurden alle wichtigen Angelegenheiten diskutiert. Auch die, dass man zwei Tage vor der Heimreise am Abend gemeinsam die Theateraufführung von Marcias Schule besuchen wollte. Die Kinder und Lehrer hatten sich etwas Besonderes zum Abschied für Marcia ausgedacht. Was es war, würden sie allerdings nie erfahren.
Die Kinder waren von der Schule schon befreit und hatten zwei Wochen Ferien, bevor sie in Manhattan wieder in die Schule mussten.
»So, Marcia«, begann Mrs. Bishop, »wann genau fängt die Vorstellung in der Schule an?«
»Wir treffen uns schon am Nachmittag und um neunzehn Uhr ist Einlass und eine halbe Stunde später geht es los.«
»Ethan, kommst du auch?« Fragte Marcia aufgeregt ihren Bruder.
»Natürlich kommt Ethan«, beantwortete Mrs. Bishop die Frage ihrer Tochter. Er sollte erst gar nicht die Chance bekommen, sie zu verneinen.
»Gut, dann treffen wir uns alle in deiner Schule.«
»Ethan«, sprach Mrs. Bishop ihren Sohn direkt an. »Bist du fertig mit dem Kennzeichnen deiner Sachen? Morgen früh kommen die Umzugsleute und wollen den Rest verpacken.«
»Ja, bis auf mich selbst habe ich alles gekennzeichnet. Mum. Ich wollte mich heute noch mit Laura treffen. Sie wird mich fragen, wann wir das nächste Mal nach München kommen.«
»Tja, Ethan, eigentlich gar nicht. Es sei denn, wir entschließen uns, einmal hier Urlaub zu machen. Wie wichtig wäre es dir denn, Laura hier zu besuchen?«
»Naja, also ich mag sie schon, aber, ich weiß nicht genau, wie wichtig es wäre. Wir können ja telefonieren oder Mails schreiben.«
»Ethan, was hältst du davon«, fragte Mrs. Bishop, »wenn du sie nächstes Jahr zu uns nach New York einlädst? Wenn sie möchte und ihre Eltern nichts dagegen haben, könnte sie in den Sommerferien eine oder zwei Wochen zu uns kommen.«
»Mhh.« Er machte einen spitzen Mund. »Keine schlechte Idee, Mum. Ich werde es ihr so vorschlagen.« Ethan war sichtlich erleichtert und der Lösung seines Problems einen Schritt näher gekommen.
»Soll ich jemanden von euch beiden mitnehmen?«, wollte Mrs. Bishop wissen. Marcia sagte:
»Nein, Mum, ich bleibe hier und fahre dann direkt zur Schule.«
»Und du, Ethan?« sie drehte sich um und schaute ihn an. Er überlegte kurz, um dann »nein« zu sagen.
»Ich bleibe hier und treffe mich dann mit Laura.«
»Ok, dann sehen wir uns alle heute Abend in der Schule.« Marcia war schon auf dem Weg zu ihrem Zimmer und rief laut:
»Ok, Mum.« Mrs. Bishop ging zur Wohnungstür, drehte sich mit einem »Ach« um und kehrte noch einmal in die Küche zurück. Er saß immer noch am Tisch. Er hatte einen Fuß auf den Stuhl hochgezogen und stocherte mit seinem Löffel im Müsli herum, um die Rosinen zu finden, damit er sie zuerst essen konnte. Das machte er schon so, seit er Müsli zum Frühstück aß. Er schaute kurz hoch und sah, wie seine Mutter einen braunen Umschlag vom Schrank nahm, den sie vergessen hatte.
»Ich wünsche dir einen schönen Tag, Ethan.« Sie ging zur Wohnungstür und war nicht mehr da.
»Ethan.« Dr. Bishop stand neben seinem Sohn und fasste ihn an der Schulter an. »Wir sind fertig. Mum kommt jetzt zum Friedhof.«
»Ist gut, Dad.« Er ging langsam zwei Schritte zurück. »Komm, wir fahren da hin.«
»Können wir nicht warten und mit Mum mitfahren?« Dr. Bishop biss sich auf seine Oberlippe.
»Können wir, aber wir sollten draußen auf sie warten.«
»Nein.« Ethan schüttelte seinen Kopf. »Nein, ich möchte gerne bei ihr bleiben.«
»Ok.« Dr. Bishop ging zu dem kleinen Mann, sprach mit ihm und kehrte zu ihm zurück. »Mum wird in einen Transporter gebracht und dann fahren wir hinter dem Auto zum Friedhof.«
Zwei Männer in schwarzen Anzügen kamen zu dem Case, verbeugten sich leicht und bewegten ihn dann. Dr. Bishop hatte seinen Arm um die Schulter seines Sohns gelegt und ging so mit ihm hinter dem Sarg in Richtung Ausgang. Die Männer schoben den Sarg in den Transporter, so wie man es bei einem Krankenwagen tat. Ethan und Dr. Bishop beobachteten das Ganze aus dem Auto, mit dem sie gekommen waren. Der Transporter führ los und Dr. Bishop und sein Sohn folgten ihm. Ethan schaute die ganze Fahrt über immer nach vorne, um den Transporter nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie am Mount Hebron angekommen waren, stieg Dr. Bishop aus und ging in das Gebäude am Eingang des Friedhofes. Ethan stieg auch aus und ging zu dem Transporter, der rückwärts an dem Haus geparkt wurde. Er fragte einen der Männer, was jetzt mit seiner Mutter geschehen würde. Sie wird bis zum Tag ihrer Beerdigung hier aufbewahrt, informierten ihn die Mitarbeiter des Friedhofs. Ethan war nicht streng gläubig erzogen worden. Seine Mutter war Jüdin, aber auch nicht sehr oft zur Synagoge gegangen. Er wusste allerdings, dass Juden sehr schnell nach ihrem Tod beerdigt wurden. Ethan wunderte sich, warum es dann bei Mum so lange dauerte. Dr. Bishop kam zu ihm und sagte:
»Wir sind fertig und können gehen.« Der Sarg stand wieder auf einer fahrbaren Vorrichtung. Dr. Bishop ging zu ihm hin, legte seine Hand darauf und sagte etwas, aber Ethan verstand es nicht, da er zu weit entfernt war. Ethan ging zu seinem Vater und legte seine Hand auch noch einmal auf den Sarg.
»Er ist hässlich und hätte Mum nicht gefallen.« Dr. Bishop drehte sich zu seinem Sohn.
»Ethan, es ist nicht ihr Sarg, sie bekommt einen wunderschönen, aus hellem Holz, so wie sie alle hellen Gegenstände aus Holz geliebt hat.« Er nickte und drehte sich um, ohne ein Wort zu sagen, und ging zum Auto.
In der Wohnung hatte Dr. Bishop die gepackten Sachen für die beiden im Flur zurechtgestellt. Sie warteten zum zweiten Mal auf den Fahrdienst, der sie zum zweiten Mal zum Flughafen bringen würde.
»Bist du bereit?« Dr. Bishop lächelte seinen Sohn fragend an. Er schaute sich in der Wohnung um und blieb mit seinen Blicken bei den zwei Paketen hängen. »Ach ja, Weihnachten, Marcias und dein Geschenk stehen dort am Fenster. Mum hat sie in München für euch besorgt. Möchtest du deins noch auspacken, bevor wir fahren?«
»Nein«, antwortete er schnell und wendete sich von den Geschenken ab. »Können wir unten auf den Fahrdienst warten?« Ethan setzte sich, ohne die Antwort seines Vaters zu hören, schon in Bewegung, um die Wohnung zu verlassen.
»Ok, dann warten wir unten.« Dr. Bishop vermied es, in den letzten Wochen so etwas wie Streit aufkommen zu lassen, um Ethan nicht zu belasten. Er spürte aber die leichte Ablehnung seines Sohnes gegen sich. Er ahnte, dass sein Sohn eines Tages mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen kommen würde. Er wusste allerdings nicht, was die Gründe sein würden.
Ethan saß im Flugzeug am Fenster und schaute wortlos in den Himmel. Nach einer halben Stunde schlief er. Dr. Bishop beobachtete seinen Sohn und war froh, diesen Tag hinter sich gebracht zu haben.
Familie Laurent hatte sich im Wohnzimmer versammelt, um Geschenke auszupacken. Emy fand das etwas albern, hatte aber Spaß dabei. Mrs. Laurent war in die Küche gegangen, um Lucía beim Zubereiten des Essens zu helfen. Mrs. Laurents Eltern, Mr. und Mrs. Reeves, die wie jedes Jahr zu Weihnachten in der Wohnung der Laurents das Fest mit der Familie feierten, wurden von ihrer Tochter mit einem Handzeichen in die Küche komplimentiert. Sie erzählte den beiden die Geschichte vom Vorabend und bat sie darum, das Thema nicht anzusprechen. Lucía sagte immer wieder, »der arme Junge« und ergänzte aber gleich:
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