Nach der letzten Stunde beeilte sich Ethan, aus dem Juilliard zu kommen. Er sah Mathis, der schon auf ihn wartete.
»Du musst verschwinden. Du kannst die Fotos machen, aber du musst gehen.«
Ethan erklärte im Schnelldurchlauf, was sich ereignet hatte und dass er verabredet war.
»Respekt, Alter.« Mathis war begeistert und klopfte Ethan mit viel Anerkennung auf die Schulter. »Respekt.«
Ethan schaute sich um. Er sah das Mädchen aus dem Ballettunterricht aus dem Juilliard kommen und ging ihr entgegen.
»Schön, dass du gewartet hast.« Sie küsste ihn zur Begrüßung auf seine Wange. Ethan merkte jetzt erst, dass sie einen Akzent hatte. »Wo gehen wir hin?« Sie lächelte und wartete auf eine Antwort.
»Ja, also wir könnten gleich hier, hinter dem Lincoln ist ein Bistro. Wenn du möchtest?«
Sie hatte einen Rucksack dabei den sie sich über die Schulter legte, ohne ihn richtig aufzusetzen. Sie suchten sich einen Platz im hinteren Teil des Ladens, bestellten beide Kaffee und schauten sich an.
»Wie heißt du?«
Ethan begann vorsichtig mit einem Gespräch.
»Chloé, Chloé Dubois.«
«Bist du Kanadierin«
»Nein, ich komme aus Frankreich. Aus Nizza, genau. Aber ich lebe schon seit sechs Jahren im Internat École de danse de l'Opéra de Paris. Sorry, ich meine im Internat der Pariser Oper. Und du bist ein echter New Yorker?«
»Mhh, naja, also eigentlich ja.«
Chloé lächelte.
»Und uneigentlich?«
Beide lachten.
»Ich bin hier geboren, aufgewachsen bin ich zum größten Teil in Deutschland, in München. Meine Eltern haben dort gearbeitet. Aber jetzt sind wir wieder hier. Aber warum bist du denn in New York, wenn du in Paris zur Schule gehst?«
»Ach, es gibt ein Austauschprogramm zwischen den Schulen. Wir sind ja les Petits Rats à l’Opéra, also die kleinen Ratten der Pariser Oper. So nennt man den Nachwuchs der Oper bei uns in Frankreich. Die Ausbildung dauert bei uns auch länger als am Juilliard.«
Er war begeistert von dem Mädchen. Er hatte sein Kinn in beide Hände gelegt und hörte ihr gespannt zu.
»Wir bleiben für ein Semester hier und dann gehen wir wieder nach Paris zurück.«
»Wo gefällt dir die Ausbildung besser?« Er schaute Chloé die ganze Zeit in ihr Gesicht, während er mit ihr sprach.
»Naja, in Paris ist es schon ein wenig härter. Aber dafür ist hier der Unterricht etwas vielfältiger. Was machst du? Wo studierst du?«
Ethan hatte zwei Möglichkeiten: Lügen und damit eine eventuelle Freundschaft mit Chloé von vornherein zu ruinieren, oder die Wahrheit sagen und vielleicht morgen im Juilliard rauszufliegen. Er entschied sich für Variante zwei.
»Eigentlich gehe ich noch auf die High School. Ich dürfte noch gar nicht im Ballettunterricht spielen.«
Chloé grinste und hatte viel Spaß an der Geschichte von Ethan und Mathis.
»Und wenn du mich morgen verrätst, fliege ich raus.«
Chloé lachte wieder.
»Dann gib dir viel Mühe bei unserem Rendezvous. Und wenn du so nett bleibst, wie du es bist, werde ich dich nicht verraten. Das ist doch verrückt. Ich habe jetzt einen illegalen Pianisten, der immer nett zu mir sein muss. Bon. Welches Mädchen ist denn der Grund für euren verrückten Plan?«
»Es ist Mathilda, also das Mädchen.«
»Mathilda? Die kommt auch aus Paris. Und warum spricht er sie nicht einfach so an?«
»Das weiß ich, also ich weiß das auch nicht so genau. Aber er will die Fotos auch für seine Bewerbung machen.«
Chloé lachte wieder.
»Das ist wirklich verrückt. Das kann ich in Paris erzählen. Dann wollen alle jungen Mädchen in das Austauschprogramm. Ich muss los. Wir sind die Jüngsten am Juilliard, stehen unter Bewachung. Die anderen Studenten haben alle Ausgang wie sie wollen. Wir müssen aber spätestens um neun in der Residenz sein. Und wir dürfen keinen Besuch empfangen. Wir sind Gefangene. Wann spielst du wieder in unserer Klasse?«
Er zog einen Zettel aus der Tasche.
»Ja, also eigentlich morgen.«
»Das ist schön. Wollen wir danach spazieren gehen? Ich war noch nie an dem großen See im Park.«
Ethan nickte zustimmend mit dem Kopf.
»Ja, ja gerne. Ich würde da gerne mit dir hingehen.«
Sie stand auf und lief mit ihm zusammen auf die Straße. Er holte tief Luft. Der Frühling würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Er brachte sie zurück zum Juilliard, wo das hauseigene Internat untergebracht war. Ethan schaute zu dem Hochhaus hinauf und fragte Chloé, wo sie wohnte. Chloé zeigte ihm das Fenster ihres Zimmers.
»Da hast du einen schönen Ausblick auf Manhattan.«
»Das stimmt. Leider kann ich dir den nicht zeigen. Du weißt, Gefangene.«
Sie küsste Ethan, ging in Richtung Lincoln Center und drehte sich kurz vor dem Eingang um, und winkte Ethan, lachend.
Er hatte Mathis versprochen, noch bei ihm vorbei zu kommen um ihm zu Berichten, was der Stand der Dinge sei. Ethan klingelte an der Wohnung und hoffte, dass Emy nicht an der Tür erschien. Mrs. Laurent machte die Tür auf.
»Ethan, seitdem du mit Mathis zusammen bist, sehe ich dich öfters. Komm rein. Wie geht es dir, was machst du, und wie war dein Tag? Nein Ethan, es war ein Scherz. Komm einfach rein. Linke Seite geht es zu Mathis und rechts zu Emy. Du hast freie Auswahl.«
Ihm wäre es doch lieber gewesen, wenn Emy die Tür geöffnet hätte.
»Ich, äh, eigentlich wollte ich zu Mathis.«
»Na du weißt ja, wo es langgeht.«
Noch bevor er im Zimmer von Mathis ankam, begegnete er noch Lucía, die sich sehr freute, ihn zu sehen und ihn sofort fragte, ob er etwas essen wolle. Er bedankte sich, lehnte aber ab. Mathis sprang von seiner Couch hoch, als er Ethan sah.
»Alter, ich dachte, du kommst nie mehr. Willst du was trinken oder so?«
Wieder bedankte er sich und lehnte das Angebot ab. Er berichtete, was sich in der Schule und danach bei Ethans Date abgespielt hatte. Mathis verfolgte die Erzählungen seines Verbündeten wie eine Liveübertragung des wichtigsten Spieles der Saison im Radio. Es klopfte. Mrs. Laurent steckte ihren Kopf durch die einen Spalt weit geöffnete Tür.
»Jungs, wir essen gleich. Ethan, wenn du möchtest, kannst du gerne mitessen. Und du darfst sogar neben mir sitzen.«
»Oh nein, ich meine, danke, aber ich, also, ich muss jetzt nach Hause. Aber danke für die Einladung.«
»Ok.«
Mrs. Laurent zog ihren Kopf aus der Tür und verschwand.
»Ich werde besser gehen. Wir sehen uns morgen in der Schule.«
Mathis brachte ihn zur Tür. Ethan war froh, Emy nicht begegnet zu sein. Mathis ging in die Küche, wo der Rest der Familie, bis auf den Vater, am Tisch saßen und mit dem Essen auf ihn gewartet hatte. Mrs. Laurent fragte, ob Ethan gegangen sei. Emy schaute vom Teller auf.
»Ethan war hier? Warum hast du mir das nicht erzählt, Mum?«
»Warum hätte ich es dir denn sagen sollen? Du siehst ihn doch jeden Tag in der Schule. Ich wusste nicht, dass es dich interessiert.«
Mrs. Laurent schaute ihre Tochter mit einem verschmitzten Lächeln an. Emy setzte einen beleidigten Gesichtsausdruck auf. Lucía lief gerade mit einer Salatschüssel hinter dem Stuhl entlang, auf dem Emy saß.
»Der Junge hätte ruhig mitessen können. Er sieht sehr dünn aus.«
Emy fuhr herum.
»Ach, Lucía, du wusstest es also auch, dass er da war?«
»Ja, Emy, war er denn nicht bei dir?«
Mrs. Laurent grinste wieder. Mathis beugte sich leicht nach vorne.
»Egal, was da zwischen dir und ihm war, der Zug ist abgefahren. Ethan ist jetzt fest in französischen Händen. Und mehr sage ich dazu nicht.«
Sie schaute ihren Bruder an.
»Du Doof. Was soll da gewesen sein? Ich bin immer noch mit Lucas zusammen. Und du hast doch selber gesehen, wie er mit Laura beim Ball rumgemacht hat. Also erzähl nicht so einen Mist, du Scheißer, und kümmere dich um deinen Kram.«
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