»Alter, ich dachte schon, die hätten dich verhaftet. Und, was ist?«
»Ich bin der neue Nachmittags-Pianist des Juilliard Ballett-Konservatoriums.«
Mathis fiel ihm um den Hals und hob ihn hoch.
»Alter, ich könnte dich küssen.«
Ethan forderte Mathis auf, ihn wieder loszulassen und ihn auf gar keinem Fall zu küssen.
Dr. Laurent saß im Wohnzimmer. Ethan wollte gerade fernsehen, entdeckte seinen Vater als er das Wohnzimmer betrat und drehte wieder um.
»Ethan, was ist? Komm doch rein.«
Er kehrte wieder in das Zimmer zurück und setzte sich auf den großen, alten Sessel, der schon so lange er denken konnte in der Ecke stand.
»Was gibt es Neues bei dir?«
Dr. Bishop legte die Zeitschrift auf den Tisch und widmete sich ganz seinem Sohn.
»Naja, die Einladung aus München, du weißt, von der Musikschule. Ich werde dahin fahren.«
Dr. Bishop setzte sich aufrecht hin.
»Hoppla, mein Sohn. Du wirst dahin fahren? Da habe ich aber auch noch ein Wörtchen mitzureden. Wie stellst du dir das vor? Und vor allem, was soll das, warum willst du in Deutschland bei einer Schule vorspielen, wo du in New York wohnst?«
»Das ist doch egal. Wenn ich in Kalifornien studieren würde, wäre ich genausoweit von hier weg. Und ich würde gerne alle Optionen probieren, ehe ich mich festlege, wo ich studieren möchte.«
Dr. Bishop war anzusehen, dass er mit diesem Vorhaben seines Sohnes richtig Bauchschmerzen bekam.
»Ethan, erst mal bist du Amerikaner. Wenn du in Kalifornien studieren willst, ist das immer noch dein Heimatland. Und ich glaube, es geht dir doch gar nicht so sehr um die Schule. Dir geht es doch eher um München.«
»Naja, also, ich denke, selbst wenn es so wäre, ist das doch egal.«
»Egal? Du sagst mir, dass du lieber in München leben willst. Was soll da egal sein? Du stellst dir das alles ein bisschen zu einfach vor. Aber so einfach ist das nicht und ich werde dir das auch nicht so einfach machen. Deine Mum wollte, dass ihr...«
Ethan ließ seinen Vater nicht ausreden.
»Mum ist aber nicht mehr da. Und ohne sie weiß ich eh nicht, was ich hier soll. Mein Zuhause ist nicht hier.«
»Jetzt mach aber mal einen Punkt«. Dr. Bishop wurde immer lauter. »Deine Schwester ist hier. Und sie braucht dich genauso wie ich. Nur weil es dir schwerfällt, dich hier einzuleben, willst du den für dich bequemeren Weg gehen und alles hinschmeißen. Deine Schwester kann aber nicht einfach nach München zurück. Und wenn du das tust, was meinst du, was in ihr dann vorgeht? Sie fühlt sich doch dann zurückgesetzt.«
»Na, dann packen wir unsere Sachen und gehen alle zurück.«
»Hast du mir nicht zugehört? Deine Mutter und ich hatten beschlossen, wegen euch nach New York zurückzugehen. Damit ihr einen Teil eurer Jugend in eurem Heimatland aufwachsen sollt. Und unsere Familie ist doch kein Wanderzirkus, der jeden Monat umziehen kann. Es ist doch auch für Marcia wichtig, dass sie zur Ruhe kommt.«
Ethan machte eine abwertende Handbewegung und wurde laut.
»Unserer Familie ist gar keine Familie. Dann bleibt ihr eben hier und ich gehe in München zur Schule. Das ist eine sehr gute Schule, um Klavier zu studieren.«
Dr. Bishop hatte sich vor seinem Sohn in Stellung gebracht.
»Dir geht es doch gar nicht um das Klavier. Wenn das so wäre, würdest du doch bestrebt sein, an das beste Konservatorium der Welt zu kommen. Und das ist einen Block von hier entfernt. Da kannst du zu Fuß hingehen.«
»Ja, aber die großen Klassiker der Musik kommen aus Deutschland oder Österreich. Beethoven, Brahms, Telemann, Bach, Schubert, Haydn, List.«
Ethan redete sich in Rage. Sein Vater bemerkte das und versuchte sofort, ihn zu beruhigen. Als er noch klein war, stellte seine Mutter fest, dass er sich anders verhielt als seine Altersgenossen. Sie sprach mit ihrem Mann darüber und beide waren der Meinung, dass sie das von Fachärzten begutachten lassen sollte. Eine Zeit lang kam der Verdacht auf, er könnte eine leichte Tendenz zum Autismus haben. Er zeigte Anzeichen von Asperger-Syndrom. Das bestätigte sich nicht. Er war ein sehr in sich gekehrtes und sehr sensibles Kind. Seine Eltern wussten das und achteten darauf, verschiedene Situationen zu vermeiden, die den Jungen aufregen könnten. Ethan hatte als Kind nie typische Dinge gemacht, die Jungs in seinem Alter taten. Er wollte nie auf Bäume klettern oder im Sandkasten mit anderen Kindern spielen. Er interessierte sich nie für Autos oder Baukästen oder das, was Jungs interessant fanden. Bei einem Besuch der Bishops bei seinem Onkel in Kalifornien saßen alle auf der Terrasse und genossen den warmen Tag am Pazifik. Die Türen der Villa standen offen und die langen, weißen Vorhänge aus Leinen, die bis zum Boden reichten, wedelten zwischen den Türen im Wind. Irgendwann fragte Ethans Mutter, wo der Junge sei. Alle schauten sich um und hörten erst in diesem Augenblick, dass jemand auf dem großen Flügel, der in der Mitte des Hauses stand, spielte. Die Villa war wie ein Atrium erbaut. Im ganzen Haus waren große Fenster und Türen, sodass es sehr hell im Inneren war. Alle gingen leise in das Haus. Ethan hatte sich an den Steinway gesetzt und spielte immer wieder die gleiche Tonfolge. Sein Onkel Joshua stand wie versteinert vor dem Anblick. Er war Musikproduzent und hatte mit Glück und dem richtigen Gefühl für Werbung Musik komponiert, die später zu Welterfolgen wurde. Er war in der Familie der Künstler. Mrs. Bishop ging zu Ethan an den Flügel.
»Was spielst du da Schönes, Ethan?«
Er schaute sie an, ohne die Melodiefolge zu unterbrechen.
»Mum, ein Lied für Mathilde.«
Mathilde war die Haushälterin und hatte Ethan, wie sich später herausstellte, dabei geholfen, auf den Klavierhocker zu steigen. Von dem Tag an hatte Ethan seine Bestimmung gefunden.
»Ethan.« Dr. Bishop sprach sehr ruhig auf seinen Sohn ein. »Du sollst doch studieren, wo es für dich am besten ist. Aber die Entscheidung, wo das sein wird, solltest du nach der Qualität der Schule fällen und nicht danach, wo du gerne wohnen möchtest. Ich werde darüber nachdenken. Ich möchte aber, dass du dir alle anderen Optionen offenhältst und auch an allen anderen Möglichkeiten weiter arbeitest.«
Ethan machte keinen überzeugten Eindruck.
»Ok, ich gehe in mein Zimmer. Gute Nacht.«
»Ethan.« Er blieb stehen und drehte sich zu seinem Vater um. »Mach dir nicht so viele Gedanken. Du hast noch fast zwei Jahre Zeit. Warte ab, was bis dahin geschieht. Vielleicht willst du ja dann gar nicht mehr weg von hier.«
Er nickte und ging dabei aus dem Zimmer.
In der Schule war es wie an jedem Montag. Ethan war frustriert und Emy ignorierte ihn immer noch. Es war aber angenehm mild in der Stadt. Er war früher aus dem Haus gegangen und hatte beschlossen, ein Stück zu Fuß zu gehen. Er war die Columbus Ave bis zur 87. gelaufen und dann wieder zum Broadway zurück, wo er in die Line 1 einstieg, bis zur 50. fuhr und dann wieder bis zur 40. lief, um mit der M bis zur Schule zu fahren. Er hatte vergessen, dass heute seine Kariere als Klavierspieler für den Ballettunterricht begann. Nach der Schule traf er sich mit Mathis und beide fuhren zum Lincoln Center. Er ging zu seinem Arbeitsplatz, als wenn er noch nie etwas anderes getan hätte. Er war nur so lange aufgeregt, bis der Unterricht begann. Als er spielte, war alles so, als wenn er das schon jahrelang getan hätte. Die Professoren beobachteten den Neuen nur kurz, da sie sehr schnell mitbekamen, wie gut er war. Einige der Lehrer lobten sein Spiel, andere bekamen gar nicht mit, dass da ein Neuer am Piano saß. Am Ende des Unterrichtes, musste sich Ethan in den Wochenplan eintragen, oder besser, die für ihn vorgegebenen Termine bestätigen. Mathis wartete vor dem Juilliard auf ihn.
»Alter, wie war es?«
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