Man gewöhnte sich zwar daran, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen zu werden, um Gott zu huldigen. Allerdings brachte dieses dauernde Gehuldige meine Laune regelmäßig auf den Tiefpunkt. Die Aussicht auf weitere Hymnen und Gebete betäubte ich normalerweise im Voraus mit einem zünftigen Vollrausch. Jedes Mal wenn ich diesen langen deprimierenden Gang täglich in aller Herrgottsfrühe hinunterschlurfte, um meine Gebete zu verrichten, meldete sich lautstark der Kopfschmerz in meinen noch verbliebenen Gehirnwindungen. Jacop war der Ansicht, dies käme alleine von meinen Besäufnissen. Allerdings wusste ich es natürlich besser. Es lag an der Fleischeslust. Vielmehr am beständigen Mangel an derselben. Hinzu kam dann noch dieses alltäglich erzwungene Rumgebete und -gesinge. Es war wirklich kein Wunder, dass ich allmählich den Verstand verlor. Beziehungsweise mir die größte Mühe gab, ihn mir wegzusaufen. Besoffen zu sein war für mich zum Überlebensmittel geworden. Genau deshalb führte ich in der Regel immer einen vollen Weinschlauch bei mir, gefüllt mit allem, was berauschte. Leider wollte es das Schicksal, dass ich gestern meinen ganzen Vorrat an Laune machenden Getränken auf einmal verbraucht hatte. So musste ich wohl oder übel nüchtern am Gottesdienst teilnehmen. Es gab nicht viele Qualen, die hätten schlimmer sein können.
Als ich am Dormitorium vorbeikam, überrannte mich fast eine Horde übereifriger Mönche. So schnell, wie sie aus dem Schlafraum gestürmt kamen, hatten sie es offenbar sehr eilig, ihre kleinen schmutzigen Seelen zu retten. Verwundern tat mich das nicht wirklich, waren diese Mönchlein doch zu alle den wunderschönen Handlungen fähig, die mir im Leben nicht mehr vergönnt waren. Freuden voller Wonnen, die man nur in den Schößen, Mündern und Hintern von Frauen – oder im Falle der Mönche wahrscheinlich eher von Männern – fand und welche das Leben überhaupt erst lebenswert machten.
Erschöpft lehnte ich mich einen Moment an die Wand und versuchte, meinen pochenden Kopf mitsamt den gereizten Nerven zu beruhigen. Nüchtern war dies für mich in der Regel keine ganz leichte Aufgabe. Ich brauchte wirklich dringend was zu saufen. Aus tiefster Seele vor mich hinfluchend schlurfte ich weiter. Schatten tanzten um die wenigen Lichtquellen herum. Es konnte im Kreuzgang zu dieser Stunde ziemlich unheimlich sein. Schon manch wackerer Ordensmann hatte bei seiner Seele geschworen, Geister und Dämonen erblickt zu haben. Selbst den Teufel leibhaftig hatte manch einer schon hier angetroffen. Wundern tat das niemanden, denn das Saufen war neben Hurerei eines der am weitesten verbreiteten Phänomene im Orden, vor allem in den jetzigen Zeiten. Ich persönlich wäre geradezu entzückt gewesen, dem Teufel hier im Kreuzgang zu begegnen. Wenigstens wäre das dann einmal etwas Reales, denn die Schatten in meiner Seele waren viel beunruhigender und bedrohlicher als alle wahnhaft weinseligen Fantasien zusammen es je hätten sein können.
Pechschwarze Gedanken durchzogen meinen Geist und tiefste Schwermut überkam mich. Wie immer, wenn ich zu lange nüchtern und mit mir selber alleine war. Ohne betäubenden Rausch vermischten sich Frust, Wut, Verzweiflung, Selbstmitleid, Ohnmacht und das Gefühl völliger innerer Leere mit grenzenlosem Selbsthass. In meiner Seele herrschte tiefste Düsternis wenn der Schmerz kam und meinen Geist überwältigte.
Mit ein oder zwei mentalen Plagen wäre ich wohl noch fertig geworden, aber da mich alle immer in gemeinschaftlicher Gleichzeitigkeit überfielen, zehrte das besonders an meiner geistigen und seelischen Verfassung. Wenn es wieder einmal so schlimm kam, lag meine einzige Rettung auf dem Grunde eines leeren Kruges.
Viele behaupten, Kummer und Sorgen könne man nicht ertränken, da sie schwömmen. Da ich jedoch festgestellt hatte, dass es nur einer ausreichend großen Menge Weins bedurfte, um sie zumindest zu betäuben, war ich durchaus optimistisch, sie oder mich irgendwann tot gesoffen zu haben. Die Verzweiflung verlieh dieser Hoffnung Flügel. Letztendlich war Saufen das Einzige, was mich noch am Leben hielt. Sofern man mein Dasein noch als Leben bezeichnen konnte, denn das meiste davon bekam ich ohnehin nicht mehr mit. Wäre ich nicht ständig betrunken gewesen und hätte ich nicht mein Schwert mitsamt Rüstung bereits versoffen, wäre ich aus reiner Verzweiflung bestimmt irgendwann auf die glorreiche Idee gekommen, mich in meine rostige Waffe zu stürzen. Da ich aber wie alle anderen auch unbedingt in den Himmel wollte und mein Schwert schon lange versetzt war, fiel der Selbstmord wohl oder übel aus und ich versuchte stattdessen, meine Sinne beständig in einem Zustand der Betäubung zu lassen, der in der Tat näher am Tod als am Leben war.
Es hatten sich bereits alle zum Gottesdienst in der Kapelle versammelt. Wie üblich war ich einer der Letzten, was mir ziemlich recht war. Andere Menschen zu ertragen, brachte mittlerweile meinen Magen regelmäßig zum Rumoren. Leider nahm Gott darauf keine Rücksicht und schickte mir den Teufel in Menschengestalt, um mich noch zusätzlich zu quälen.
Ordensbruder Otto von Witzig war ein paar Jahre älter als ich, einen ganzen Kopf kleiner, um Längen dümmer, und versuchte ständig, seinem Namen gerecht zu werden und besonders witzig zu sein. Dabei kam er aber nie übers Versuchen hinaus. In ganz Elbing hatte sich dieser umtriebige Bruder mit seinem struppigen roten Haarschopf den Ruf des lokalen Hofnarren redlich verdient. Und wie alle Narren war er äußerst unbeliebt bei den Leuten, die er quälte. Jeder, wirklich absolut jeder, hasste diesen Kerl. Er war schlimmer als alle mongolischen Horden zusammen. Immer wenn Freiwillige für irgendein selbstmörderisches Unternehmen in diesem Krieg gesucht wurden, sorgte dieser Kerl dafür, dass die Ordensleute Schlange standen, nur um ihn nicht länger ertragen zu müssen. Da stand er auch schon mitten im Weg – wo auch sonst – und wedelte mit seinen Armen. Dabei grinste er mich dümmlich an.
„Fulcher!“, kam er mir feixend entgegen. Damit war es zu spät, um noch wegzulaufen. Er klopfte mir auf die rechte Schulter und greinte mit seiner schrillen Stimme direkt in mein Ohr.
„Ich hoffe deine Waffe ist mittlerweile wieder scharf geworden!“
Natürlich wusste er von meinem Problem. Jeder wusste es. So etwas musste einfach jeder wissen. Seit wir uns kannten, begrüßte Witzig mich jedes Mal mit diesem einen furchtbar geistreichen Satz. Und jedes Mal hatte ich dabei das unstillbare Verlangen, ihn zu Brei zu schlagen. Er meckerte sein Ziegenlachen und tanzte dann förmlich in den Versammlungsraum, in dem das Matutin stattfand. Ich seufzte tief und hatte endlich einmal eine ungefähre Vorstellung, wie sich Jesus gefühlt haben musste, als er sein Kreuz Golgatha hinaufschleppte.
Bevor ich mit dem Saufen begann, als mich noch die schwindenden Reste meiner Manneskraft zu Aggression und Wahnsinn getrieben hatten, hatte ich nie gezögert, solche Sprücheklopfer kurzerhand zusammenzuprügeln. Heute, wo ich nur noch ein abgefüllter Weinschlauch war, konnte ich jedoch mit so etwas besser umgehen. Denn körperlich war ich maximal noch in der Lage, Jacop hin und wieder eine zu verpassen, ohne gleich zusammenzubrechen.
Der Versammlungssaal unseres Konvents war brechend voll und verströmte den Duft Dutzender ungewaschener Kerle. Das wollte ich mir nun wirklich nicht auch noch antun und lehnte mich am Eingang an den Türrahmen. Bruder Otto stand direkt vor mir und fand, trotz der Gebete, in welche mittlerweile alle vertieft waren, Gelegenheit, mich anzugrinsen und eine obszöne Geste in Hüfthöhe zu vollführen. Nur mühsam unterdrückte ich das Verlangen, ihm den Schädel am Türrahmen einzuschlagen.
Ob es nun der Gestank, der Kater oder die Müdigkeit waren, jedenfalls überrollten mich Erinnerungsfetzen voller Schmerz und Agonie. Wie ein Ertrinkender musste ich nach Luft ringen. Kalter Schweiß brach mir aus und rann in Strömen meinen Rücken herab. Alles schwankte und drehte sich, ich stolperte davon und floh vor der Menge in die Ruhe des Kreuzganges. An den Wänden befestigte Pechfackeln erhellten die feindselige, tiefschwarze Finsternis mit Inseln sanften Lichts. Dahinter jedoch meinte ich, bedrohliche Schatten wahrzunehmen. Der Kreuzgang war eine Welt des Übergangs, in dem das Irdische auf das Überirdische traf. An einem solchen Ort konnte man Gott verlieren und den Teufel finden, denn die Finsternis löste die Grenzen aller Wahrnehmung auf. Gedanken und Gefühle verschwanden in der Dunkelheit, um kurz darauf als Dämonen wieder ans Licht zu treten. Benommen wankte ich noch bis zur nächsten Nische, ehe mich dort die Kräfte endgültig verließen. Aus den Schatten wähnte ich hasserfüllte Weiber mit Knüppeln nach mir schlagen und begann, wie ein kleines Kind zu heulen. Bis mir endgültig die Sinne schwanden und ich in einen tröstlichen Dämmerschlaf verfiel.
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