Kurz vor Dienstschluss, ich war gerade frohen Mutes aufgestanden, um mich meiner wohlverdienten Ruhe zu nähern, trat Kronzucker nach einem zaghaften Klopfen in mein Büro-das-nicht-nur-keins-war-sondern-nun-auch-nichtmalmehr- meins , in unser Büro-das-nicht-nur-keins-war-sondern-das-ich-jetzt-mit-einer-der-sympathischsten-Personen-überhaupt-teilen-durfte und meinte, er hätte da was für uns. Wenn er nur etwas für sie gehabt hätte, beispielsweise ihre Versetzung in eine andere Abteilung, wäre ich schon zufrieden gewesen, aber wie es aussah, kam Arbeit auf uns zu.
„Selbstmord!“ erklärte Kronzucker.
„Wann?“
„Heute Nachmittag. Lohmann ist schon da.“
„Prima.“
„Fahren Sie beide hin, Lohmann macht dann Dienstschluss.“ Er wandte sich an meine Partnerin. „Es macht Ihnen doch nichts aus, länger zu arbeiten?“
„Das ist mein Job.“
„Harry, wann werde ich das mal von Ihnen zu hören bekommen?“
„Wenn ich pensioniert bin!“ Er reichte mir einen Zettel mit den wichtigsten Informationen, ich reichte ihn meiner Partnerin und bevor sie ihn Kronzucker zurückgeben konnte, befanden wir uns schon auf dem Weg in die Tiefgarage. „Möchten Sie fahren?“
„Wenn Sie mir nicht zutrauen, dass ich...“
„Haben Sie einen Führerschein?“
„Ich...“
Ich reichte ihr den Wagenschlüssel und sie nahm ihn. „Na also, geht doch.“
„Sie haben es wohl gerne, wenn Sie von Frauen bedient werden.“
„Ich seh hier keine Frau! Jedenfalls nichts, was ich mir unter einer Frau vorstelle. Außerdem hätte es, wenn ich es Ihnen nicht angeboten hätte, ja wohl sofort geheißen, ich würde keiner Frau zutrauen, Auto zu fahren. Also fahren Sie, verflucht noch mal!“
Wir fuhren los. Ich drehte die Beatles (das „Weiße Album“, das die Autodiebe seinerzeit verschmäht hatten, zum Glück!) laut genug auf, um sie zwar zu verstehen, nicht aber den Polizeifunk, was sie mit der Bemerkung: „Scheußliche Musik!“ quittierte. Also tauschte ich die Beatles gegen Frank Zappa aus, denn ich war mir sicher, damit würde sie („Das ist ja noch schlimmer!“) viel mehr anfangen können!
„Schlaftabletten“, meinte Lohmann und war schon auf dem Sprung.
„Probleme mit dem Einschlafen, Lohmann?“ erwiderte ich, aber Lohmann schien es mehr nach Hause zu ziehen.
„Sie hat Schlaftabletten genommen“, erklärte er, „35 Jahre, verheiratet, kein Abschiedsbrief, aber eine Überdosis Schlaftabletten. Selbstmord. Ich hau jetzt ab.“ Sprachs und tats.
„Schönen Abend noch. Ist hier irgendjemand der Gerichtsmediziner?“
„Das bin ich“, sagte selbiger, „Harry Rhode, wenn ich nicht irre?“
„Sie irren nicht!“
„Wie ich Ihren Kollegen schon gesagt habe, es war voraussichtlich eine Überdosis Schlaftabletten.“ Wir befanden uns inzwischen, was ich zu erwähnen versäumte, im Schlafzimmer der Toten. Auf dem Nachttisch befand sich ein leeres Glas, in dem sich noch Spuren der aufgelösten Schlaftabletten befanden. Das sah sogar ich als Laie. Die Tote lag im Bett, sie trug ihre gewöhnliche Straßenkleidung, jedenfalls trug sie kein Ballkleid oder ein wunderbares schwarzes Negligé mit Rüschen, durch das sich sanft ihre alabasterne Haut erkennen ließ und das ihre perfekte Figur... So etwas jedenfalls nicht! „Sie hat gewartet, bis sich die Schlaftabletten im Wasser aufgelöst haben und hat dann das Gemisch getrunken. Dann wird sie sich hingelegt haben und langsam eingeschlafen sein.“
„Gut, vielen Dank.“ Das war etwas, das sich selbst der unbegabteste Kriminalschriftsteller noch aus den Fingern gesogen haben konnte. „Machen Sie trotzdem eine Autopsie!“
„Warum?“ fragte mich meine neue Kollegin.
„Weil man ihr ja auch Rattengift verabreicht haben könnte, nicht wahr?“
„Mein lieber Herr Insp... mein lieber Herr Rhode, hier wird mir ganz deutlich, dass Sie von Frauen nichts verstehen.“
„Das weiß ich selbst, aber erläutern Sie es den Interessierten doch bitte an diesem Fallbeispiel.“
Sie deutete auf die Tote. „Eine Frau würde nie Rattengift nehmen.“
„Gutgut.“ Ich wartete. „Ich warte.“
„Herr Rhode, was macht Sie denn stutzig? Wittert der große Kriminalist etwa einen Mord?“ Ihr Tonfall war für meinen Geschmack drei Nummern zu höhnisch und mein Geschmack liegt normalerweise weit über dem Durschnittshöhnischen. „Was würden Sie denn machen, wenn Sie Selbstmord begehen?“
„Einen Abschiedsbrief hinterlassen, vielleicht?!“
„Vielleicht hat sie das ja?!“
„Vielleicht klären wir das?!“ Ich sah mich nach jemandem um. Da niemand da war, sah ich niemanden. Ich wollte mich schon hochbeamen lassen, als ich eines Mannes gewahr wurde, aber es war, wie in jedem guten Film, nur mein Spiegelbild. Dann kam jedoch ein Mann in Nichtzivil und fragte, was die Situation rettete: „Möchten Sie jetzt mit dem Gatten der Toten sprechen?“
„Wunderbar!“ meinte ich, was mir die üblichen bösen Blicke einbrachte. „Ich meine, äh, ja.“ Wir folgten dem Herrn und betraten das Wohnzimmer. Auf dem Sofa, in Tränen aufgelöst wie sich das gehört, saß, so vermutete ich, der Mann der Toten, nunmehr Witwer. „Guten Tag, mein Name ist Rhode“, stellte ich mich vor und er blickte auf. „Äh, und das ist meine Kollegin Frau... Fräulein Fischer.“
„ Frau Fischer!“ berichtigte sie.
„Äh, ja.“
„Nickel, Gernot Nickel.“ Er wischte sich die Tränen aus den Augen.
„Herr Nickel, es tut mir leid, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Eine Routinefloskel.
„Fragen Sie...“ Er schüttelte den Kopf auf die Art, als könnte er es noch immer nicht begreifen. Ein Klischee.W
„Sie haben Ihre Frau gefunden...?“ Eine übliche Begebenheit.
Er nickte. „Ich... ich war bei der Arbeit... im Büro“-das-sicherlich-mit-meinem-kaum-zu-vergeleichen-war-bzw-eher-umgekehrt „...als sie anrief. Sie hat... sie hat gesagt, es... es hätte keinen Zweck mehr... und sie... und sie würde sich das Leben nehmen.“ Eine stammelnde Erzählung – war mir auch schon geradezu annährend fast immer an irgendeiner Stelle eines Falles vorgekommen.
Er versank wieder in sich selbst.
„Wann war dieser Anruf etwa?“ Eine Hintergrundfrage.
„Nachmittag... Ich war zum Mittagessen...“ Eine Aufzählung: Er erzählte, dass er zum Mittagessen außer Haus gewesen wäre. Sie hätten eine Pizza gegessen und dann wäre er zur Arbeit zurückgefahren. Er arbeitete in einer Bank, sagte er, wo sie ihn dann am Nachmittag angerufen habe, gegen halb vier. Sie habe gesagt, sie wolle sich das Leben nehmen, er jedoch habe dies nicht ernst genug genommen, gleich einen Krankenwagen zu rufen, sondern sei sofort nach Hause gefahren, aber unterwegs im Verkehr stecken geblieben. Und dann habe er die Leiche seiner Frau vorgefunden – zu spät. Nun mache er sich schreckliche Vorwürfe, dass er sie nicht ernst genug genommen hatte.
„Herr Nickel, ich weiß, das ist keine nette Frage, aber... führten Sie eine glückliche Ehe?“ Was sollte er wohl darauf antworten? Angesichts der Tatsache, dass sich seine Frau umgebracht hatte, war eine Antwort wie „Wir waren noch so verliebt wie am ersten Abend, als wir uns auf der Fete auf den ersten Blick ineinander verliebt haben und wussten, dass unsere Liebe ewig halten würde!“ selbst für die schlechtesten Krimiautoren (naja, für die Autoren von Südstaatenepen war sie vielleicht akzeptabel) unwahrscheinlich, zumindest aber unglaubwürdig.
„Herr... Kommissar“, riet er einfach mal drauflos, „Sie kennen das sicher, in einer Ehe läuft es nicht immer gut...“
Ich kannte das zwar nicht, jedenfalls nicht aus eigener Erfahrung, aber einen solchen Satz unterbricht man halt nicht mit solchen plumpen Richtigstellungen. Meine Kollegin, Partnerin , zeigte mir durch den Blick, den sie mir zuwarf, dass sie ebenfalls annahm, dass ich das nicht kannte.
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