Die Glocke schlägt an.
Er fährt hoch, greift nach Mütze und Halstuch, fühlt noch mal, ob der Schein fest im Strumpf sitzt – da macht schon Steinmetz die Tür auf: „Freistunde dritte Stufe!“
Unterm Glaskasten sammeln sie sich, elf Männlein von sechshundert.
„Seid ihr alle?“ fragt Petrow.
„Nein, Batzke fehlt noch.“
„Der pennt, muss extra geweckt werden.“
„Nein, der will nicht kommen.“
„Einen feinen Begriff kriegen die vorne. Die werden uns rasch wieder die Extrafreistunde abknöpfen, wenn sie sehen, dass wir nicht mal hingehen.“
„Wer hat den Fußball?“
„Einen neuen brauchen wir auch wieder. Den kann man nicht mehr flicken.“
„Halt's Maul, Schuster, gut ist der noch zu flicken, sei bloß nicht so faul!“
„Wenn die feinen Herren übermorgen rauskommen, können sie schon mal zehn Mark schmeißen von ihrer Arbeitsbelohnung.“
„Ich brauch' mein Geld für mich.“
„Nanu, Herr Oberwachtmeister, warum gehen wir denn heute durch den Keller?“
„Is sich näher.“
„Und verboten ist es auch.“
„Wer verboten? Gar nicht verboten!“
„Rusch!“
„Was der verbietet, ich hust' in die Hosen.“
„Da steht doch wer!“
„Mensch, Bruhn, kommst du mit uns mit?“
„Au fein, Emil, da können wir schön miteinander klöhnen.“
„Petrow hat mich rausgeschmuggelt, Rusch ist jetzt nicht im Bau. Fein, was, Willi?“
„Das gibt es gar nicht! Der ist noch nicht mal zweite Stufe! Herr Oberwachtmeister –!“
„Ich nichts sehen. Nicht wissen, wie Bruhn rausgekommen.“
„Hältst du den Sabbel, neidischer Hund! Gönnst das dem Bruhn wohl nicht, dass er ein einziges Mal mit uns rauskommt?“
„Stubben, dämlicher, wenn ich mal was will, gibst du an, noch und noch.“
„Bei Bruhn ist das anders, bei Bruhn sagt kein Wachtmeister was.“
„Anders – weil er dein Süßer ist, was? So was gibt's gar nicht, ich werde dir Lampen machen!“
„Tu's doch, wenn du's wagst! Ich weiß auch was von dir...“
Sie sind draußen. Es ist der Freihof vom Jugendgefängnis, auf dem sie Fußball spielen und spazierengehen dürfen, ohne Aufsicht – Petrow hat sich schleunigst gedrückt –, als Vorbereitung für die Freiheit, allerdings von einer fünf Meter hohen Mauer umgeben.
„Komm, Willi, lass ihn doch reden, ich bin ja jetzt draußen.“
„Ja, komm. Wir gehen hier die Mauer lang, da stören wir sie nicht beim Spiel.“
„Dir muss man eine in die Fresse schlagen, du hochnäsiger Hund, du!“
„Schlag doch, schlag doch, wenn du Courage hast!“
„Das will ich dir beweisen, du Priemmaul, du elendes –!“
„Spielen wir nun Fußball oder nicht, Schuster –?“
„Viel zu elend bist du mir, hau bloß ab mit deinem Puppenjungen. Aber ich sag' es dem Rusch –!“
„Also komm endlich, Willi!“
„Dieser elende Schuster, Emil! Ich will dir auch sagen, warum er so stänkert. Meine beiden gelben Spatzen hab' ich ihm verkauft für vier Pakete Tabak. Und der Rusch hat es gerochen. Nun ist er die Vögel und den Tabak los. Darum ist er so giftig, nicht deinetwegen.“
„Wann kommt er raus, der Schuster? Der spinnt ja schon.“
„Und ob! Drei Jahre muss er noch abreißen. Aber er schmiert sich ja an jeden ran, den Beamten besohlt er heimlich die Schuhe, noch und noch, und jetzt will er ja auch wieder in die katholische Kirche eintreten, da kriegt er sicher Bewährungsfrist!“
„Ja, der kommt immer wieder raus, der versteht den Bogen.“
Sie gehen in der warmen Maisonne immer unter der Mauer auf und ab. Grün ist kein Gräserl, kein Zweig zu sehen, aber der Himmel ist schön blau, und nach den trüben Zellen ist die Sonne doppelt hell und warm. Sie wärmt bis in die Knochen, die Glieder werden schlaff und lässig, die immer gespannte, sprungfertige, abwehrbereite Stimmung entspannt sich, die beiden werden weich und ruhig.
„Du, Willi“, sagt der kleine Bruhn.
Er ist ein dicker, molliger Junge, erst achtundzwanzig, mit siebzehn in den Bau gekommen. Mit seinen hellblauen Augen, dem rosigen, vollen Gesicht, dem fast weißen Haar sieht er aus wie ein großes Kind. Auf seinem Schild in der Zelle steht aber ‚Raubmord’, und er hat auch die Höchststrafe für Jugendliche bekommen, damals noch fünfzehn Jahre. Doch nach so was sieht er nicht aus, er ist ein guter Junge, alle im Bau mögen ihn. Nie hat er sich angeschmiert, und doch mögen sie ihn.
Übrigens behauptet er, wenn er auf die Sache, sehr selten und sehr hilflos, zu sprechen kommt, dass er zu Unrecht verurteilt ist. Es war kein Raubmord, es war Totschlag, in Wut und Verzweiflung hat er seinen Kahnschiffer, der den Schiffsjungen Bruhn bis aufs Blut peinigte, erschlagen. Dass es ihm dann leid tat, mit dem toten Schiffer die goldene Uhr ins Wasser zu werfen, das steht seiner Ansicht nach auf einem anderen Blatt. Nicht um die Uhr hat er den erschlagen.
Da gehen die beiden jungen Leute, fünf Jahre und elf Jahre Knast haben sie hinter sich, jetzt sind sie in der Sonne, und in zwei Tagen ist alles überstanden, und alles wird wieder gut.
„Du, Willi?“ fragt der kleine Bruhn.
„Ja, Emil?“
„Ich hab' dich schon in der Spülzelle gefragt: Willst du nicht hier bleiben? Hier am Ort, meine ich. Nein, sag noch nichts, ich denke mir, wir nehmen uns zusammen ein Zimmer, das wird billiger. – Und wenn du nicht gleich Arbeit kriegst, kochst du und wäschst und machst die Hausarbeit. Ich werd' gut verdienen. Und abends werfen wir uns fein in Schale und gehen aus.“
„Ich muss doch sehen, dass ich Arbeit kriege, Emil. Ich kann doch nicht ewig deine Hausarbeit machen.“
„Arbeit kriegst du. Nur so für den Anfang, dachte ich. Wenn du kräftiger wärst, würde ich dich in der Holzfabrik unterbringen, aber du musst wohl Schreibkram machen oder so was ... Der Alte mag dich doch gerne, der besorgt dir sicher was.“
„Ach, der Direktor, der kann auch nicht, wie er möchte. Und dann, Emil, hier das kleine Nest, überall laufen die Wachtmeister rum und die blauen Jungens auf Außenarbeit und ewig hast du den Bunker vor Augen und nach drei Tagen wissen die Krimschen, woher du bist. Und dann schwatzt es sich rum und die Wirtin erfährt's und dir wird gekündigt...“
„Wir gehen gleich zu einer, die's nicht stört.“
„Ach, das sind doch auch wieder solche, die wollen uns dann gleich hochnehmen.“
„Braucht nicht zu sein, Willi, glaub mir, braucht nicht zu sein. Es gibt auch andere. – Ich denk' immer, ich krieg' noch mal ein anständiges Mädel, nicht solch Nuttenpack, und heirate und werde Meister und hab' Kinder ...“
„Würdest du's ihr denn sagen?“
„Weiß nicht. Müsste man mal sehen. Aber besser nicht.“
„Aber du musst es ihr sagen, Emil! Sonst hast du ja immer Angst, es kommt raus und sie läuft dir weg.“
Sie stehen in der vollen Sonne, sie sehen sich nicht an, sie sehen vor sich hin in den grauen Sand, Kufalt wühlt mit seinem Pantoffel darin.
Bruhn bittet noch einmal: „Also, Willi, mach, komm mit mir!“
Und Kufalt: „Nein. Nein. Nein. Das mit dir, Emil, wäre doch auch wieder Kittchen. Wir würden immer nur vom Bau reden und vom Knast. Nee, nicht.“
„Nein!“ sagt nun auch Bruhn.
„Man hat ja hier alles mitgemacht, und man hat schön mitgeschoben und beschissen und hat andere in die Pfanne gehauen und ist denen in den Arsch gekrochen, denen vorne, aber nun Schluss!“
„Ja“, sagt Bruhn.
„Und dann, wegen des anderen auch ... Weißt du, als ich auf der Penne war, auf der Schule, verstehst du, da habe ich 'ne Liebe gehabt, ganz von weitem, wir haben höchstens zweimal miteinander gesprochen, und einmal hab' ich gesehen, wie sie ihr Strumpfband wieder festmachte in den Anlagen. Das war damals, als die Mädchen noch lange Röcke trugen, weißt du...“
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