Björn war nur noch am Sequenzieren. Er hatte mit den kleinen Knochen begonnen, weil er dachte, dass er bei denen eher eine Chance hätte, ein Canoidea-Gen zu finden. Aber sie waren alle von humanem Ursprung. Als letztes nahm er sich die Probe Patricks von dem großen Oberschenkelknochen vor. Er war völlig demotiviert und wollte schon kündigen. Da geschah es: er fand eine Übereinstimmung von 99,8%. Das Hundeschlüsselbein und der Menschenoberschenkelknochen waren eindeutig von ein und demselben Individuum! Wie konnte das sein?
Thor erzählte Andromeda von den Ergebnissen und die sagte nur kurz: „Ich hatte gleich an 'Anubis' gedacht, als ihr dieses 'Hucanoidea-Genom' beschrieben hattet.“ „Können wir es wagen, eine solche These ernsthaft in einem seriösen wissenschaftlichen Journal zu publizieren?“ Thor war das erste Mal in seinem Leben ratlos.
Leipzig, 2054 n.Chr.: Andromeda erleidet einem literarischen Interruptus
Sie sehnte sich im Stillen einen Orgasmus herbei und scrollte in dem bei eBay gekauften Dokument, um wieder eine ‚scharfe‘ Stelle zu finden. Der Zusammenhang an sich interessierte sie zunächst weniger. Der erschien ihr in dem gefundenen ‚Werk‘ eh sehr wirr. Ihre Augen stolperten über einen Begriff als Überschrift, der sie neugierig machte:
‚ Schwefelgasig‘
Wir sehen ein vertrautes Bild: Ich sitze arbeitend im Zug. Ich, Walt, der Mann, der benannt ist nach Walter Faber, nein bitte noch einmal, aber mit englischer Aussprache: Walter Faber, der ja gerade in New York wohnt und mit Ivy Schluss machen will. Eben gerade jener Walter Faber, der Held aus Max Frischs Roman HOMO FABER.
In welcher Zeit befinden wir uns? Sitzen wir hier einer fast vergessenen Romanfigur der fünfziger Jahre gegenüber, der hageren Gestalt eines Sam Shepard, aber einem Gesicht wie Robert Redford, angezogen mit einem weiten, fast zu großen Jackett? Seinen breitkrempigen Hut hat er auf den Tisch neben sein Notebook gelegt, auf dem er gerade konzentriert tippt. Sein blondes Haar hat er wild ohne Scheitel nach hinten gekämmt. Er fährt in einem ICE der 3. Generation mit Neigetechnik, den Zügen, die die Steckdosen für Notebooks unter jedem Sitz haben. Er reist oft mit dem Zug, aber auch mit dem Flugzeug, nur selten mit dem Auto, jedoch fast immer, um seinen Geschäften nachzugehen, wie einst der Walter Faber, der Macher, der HOMO FABER, der Mensch als Handwerker.
Nein, der echte Walter Faber kann ich wirklich nicht sein. Ich reise zwar auch viel, wie er, und tippe dabei, wie er. Aber ich benutze keine schlanke, leichte 'HERMES Baby', die elegante, mechanische schweizerische Reiseschreibmaschine, die keine Energie aus Steckdosen benötigte, damals. Nein, ich benutze heute ein Notebook unter Windows.
Dennoch ist die Ähnlichkeit von mir mit Walter Faber frappierend! Handelt es sich hier etwa um eine Wiedergeburt, ein Baumscher Klon? Oder nur um einen Menschen, der die Romanfigur nach lebt? Jedenfalls benimmt er sich gerade eben wie sein literarisches Vorbild, einen Liebesbrief an seine Freundin tippend. Einen Liebesbrief in exakt gedruckten Lettern, die Ausdrucksform des Technokraten. Genauso übernahm Walt es von seinem Idol und hielt es sein Leben lang auch durch: In jungen Jahren schrieb er Liebesbriefe mit seiner Schreibmaschine, einer alten somnambulen AEG, die noch dieses typische runde Schriftbild der 20er Jahre hatte. Auf diese, meine AEG war ich stolz, damals und identifizierte mich mit ihr, die ich noch zu Schulzeiten von einem Händler gebraucht, jedoch generalüberholt, gekauft hatte. Sie war in ihrer Wuchtigkeit ein echtes Bollwerk und symbolisierte die Schwere meiner zögerlichen literarischen Anfänge. Aber ich trotzte ihr dennoch einige Texte ab – damals.
Wie so ganz anders war dagegen die schlanke 'HERMES Baby' meines Vorbilds. Wie scheinbar leicht und elegant schien der Held meines Lieblingsromans mit dieser Maschine Sätze zu formulieren. In meiner Fantasie verschmolz ich immer völlig mit dem Autor. Eine 'HERMES Baby' war damals etwas vom Feinsten, Schweizer Hightech, für eine solche Maschine war unser junger Walt nicht reif und außerdem konnte er sie sich nicht leisten, damals. Er, der er lediglich auf seiner gebrauchten alten AEG die ersten Buchstaben sammelte, seine eigene Handschrift verachtend, die Klarheit der Maschinenschrift bevorzugend.
Wie anders ist alles jetzt im Hier und Heute: Ich habe es geschafft und jette durch die Welt, genau wie er, Walter Faber: Jetzt, im ICE 'Clara Schumann', auf dem Weg von Weimar nach Frankfurt, tippe ich auf meinem Notebook mit dem triumphalen Gefühl, eine riesige technologische Überle-genheit über Walter Fabers 'HERMES Baby' zu benutzen, wenn ich ausreichend Energie habe. Höre ich doch auch noch gleichzeitig ein Chopin-Klavierkonzert aus dieser Maschine über Kopfhörer. Der Pentium-Prozessor im Notebook erledigt das alles mit links. Die MP3-Technologie komprimiert Musik in höchster Qualität, so dass meine Festplatte keinerlei Speicherplatzprobleme hat. In welcher Steinzeit lebte dagegen Walter Faber in den fünfziger Jahren?
Etwas enttäuscht, hier keinen erotischen Text zu finden, den sie als Onanier-Vorlage missbrauchen könnte, versuchte Andromeda diesen Text einzuordnen. Sie schloss, dass er sehr viel später als der letzte geschrieben sein musste. Das 'Ich' hatte jetzt sogar einen Namen und war kein Student mehr, sondern ein 'Macher' und er gestand, dass er sich nebenbei als Schriftsteller betätigte und als solcher fühlte.
Ob 'Walt' wirklich sein Name war, oder nur eine literarische Fantasie, ging nicht aus dem Text hervor.
Ich, Walt, höre gerade den zweiten langsamen Satz des Konzerts und träume vor mich hin. Fließen Gefühle aus der Musik in meinen Liebesbrief? Beende ich ihn mit einem Hauch Chopinscher Sehnsucht?
Zwischen den Sitzen schauen mich zwei Mascara-Augen in dunklem Braun an. Eine Frau vom Typ, wie sie Modigliani gemalt hat. Aber ich bin noch im Banne meiner Freundin, an die der Liebesbrief gerichtet war. Deswegen bin ich nicht in Stimmung für einen Flirt. Ich kann heute nicht so schnell von einer zur anderen weiblichen Aura wechseln.
Andromeda war wiederum enttäuscht. Sie hatte sich jetzt etwas anderes erhofft. Aber ihr Frustrationspegel war noch nicht so hoch, um ihre Lesung abzubrechen.
Passen Walts geflickte Jeans, die wir auf den ersten Blick unter dem Jackett wohl übersehen haben, zu ihm und seinem aus der Literatur entliehenen Erscheinungsbild? Stammen die Hosen noch aus Zeiten seines Studiums? Oder war es irgendein anderer Chemieunfall mit Batteriesäure, H2SO4-verdünnt, als er wieder einmal das obligatorische 'Basisexperiment' eines jeden Chemiestudenten in den ersten Semestern wiederholte? Diese Chemikalie verträgt sich nämlich nicht mit dem auch noch so groben Baumwolljeansstoff. Kleinste Spuren, die wie auch immer auf den Stoff gelangen, ergeben beim nächsten Waschen ein Loch. Walts Studienzeit liegt jetzt schon einige Zeit zurück, er ist inzwischen Geschäftsführer und auf dem Wege zum Notar, um dort verbrieft sogar Vorstandsvorsitzender der vom ihm mitgegründeten Aktiengesellschaft zu werden. Ein interessantes Leben: Mit Höhen, gerade heute, und Tiefen, im letzten Quartal, wo alles einzubrechen drohte und er sich wie Herkules vorkam, alleine das Firmenfirmament stützend. Die Steuerungssoftware für den Roboter eine ‚nightmare‘! Konzept falsch, Berater falsch, kein Geld. Ein übler Sumpf? Wo war der Halt, an den er sich klammern und sich und seine Mitarbeiter herausziehen konnte? Es war schließlich sein Netzwerk! Seine Kontakte brachten eine Lösung. Dieses Beispiel zeigte, dass Walt sich mit einer von außen, vielleicht als Fatalismus zu bezeichnenden Haltung, in problematische Situationen stürzte. In Wirklichkeit war es nicht Fatalismus sondern die feste Gewissheit, immer eine Lösung zu finden.
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