Ohne eine Spur von Zurückhaltung und Respekt vor den Menschen watscheln überall Schwäne umher und kommen in beängstigende Nähe. Sie benehmen sich wie Bettler und erwarten, mit Brotstücken und Keksen gefüttert zu werden. Ich beobachte mit Helga die großen schönen Vögel. Einige schwimmen weit draußen. Wir bemerken, dass es meist Pärchen sind, und mit etwas Geduld gelingt es uns, auch die Partner der allein schwimmenden Schwäne herauszufinden. Manche Pärchen schwimmen getrennt, entfernen sich weit voneinander, und es dauert seine Zeit, bis sie wieder zusammenfinden.
Endlich kommen wir einmal dazu, ein Buch zu lesen und mit großer Gründlichkeit Zeitschriften zu studieren. Dann wandern die Gedanken zu unserem neuen Heim. Wie wird es sein, wenn wir da wohnen und alles nach unseren Wünschen gestalten können? Und womit wollen wir eigentlich nach unserer Rückkehr aus dem Urlaub beginnen? Was ist das Allerwichtigste?
„Weißt du, was für Arbeit auf uns wartet? Und wir liegen hier faul herum!“, sagt Helga. Die Arbeit wird uns schon nicht davonlaufen, aber wir machen unsere Pläne und freuen uns auf das neue Zuhause, das einige Hundert Kilometer von hier entfernt liegt.
Die Sonne steht nur noch flach über dem Wasser, und es wird langsam kühl. Niemand sehnt sich danach, noch einmal in das Wasser zu springen. Helga hat sich mittlerweile angezogen und wartet schon etwas ungeduldig auf mich. „Komm, mein Bummelfritze!“ Sie drückt mir ein paar Sachen in die Hand, die ich auf dem Rückweg zu tragen habe. „Wir wollen doch heute noch ein bisschen feiern!“
Es ist mir ganz recht, dass mein Geburtstag in die Urlaubszeit fällt, Helga war heute früh die einzige Gratulantin. Nicht mal Frau Meschke weiß von dem Geburtstag ihres Gastes. Mit leicht ermüdeten Beinen erreichen wir das hübsche Wohnhaus unserer Wirtsleute. Eine graue Katze läuft mit gemächlichem Schritt ein Stück vor uns her und verschwindet dann zwischen Zaunlatten in den Garten des Nachbarn.
Am späten Abend steht eine Flasche Apfelkorn auf dem Tisch. Auch in einer kleinen Stube mit ganz bescheidener Ausstattung kann es gemütlich sein. Das Zimmer ist sauber und ordentlich, und wir haben alles, was man für einen Aufenthalt im Urlaub benötigt. Ich kurbel an dem Drehknopf unseres Radiorecorders, bis die richtige Musik ertönt, nehme das mitgebrachte Miniroulette aus dem Plastikbeutel und stelle es auf den Tisch. Helga öffnet eine Tafel Pfefferminzschokolade und zerbricht sie in Stücke. Wir beginnen mit unserer abendlichen Beschäftigung. Der hölzerne Kreisel wirbelt die Stahlkugeln über den schalenförmigen Boden. Nach drei Versuchen wird zusammengerechnet. Der Preis für den Gewinner ist jeweils ein Stück Schokolade. Helga steckt mir die gewonnenen Schokoladestückchen gleich in den Mund und freut sich. Doch dann wendet sich das Blatt, und Helga hat ihre Gewinnsträhne. Ich schiebe ihr die Schokoladestückchen zu. „Na, iss!“ Helga kommt in Verlegenheit. Statt zu essen beginnt sie, die Stücke auf ihrer Tischseite zu stapeln. „Ich weiß schon“, kommentiere ich ihr Verhalten. „Die Figur!“
Helgas alter Reisewecker steht wieder mal, aber unserem Gefühl nach ist es schon nach 24 Uhr. Halb so schlimm, wenn man Urlaub hat und am nächsten Tag ausschlafen kann. Das zweite Bett bleibt heute erst einmal unbenutzt, und wir plaudern noch ein bisschen über den Tag und über unsere Vorhaben nach dem Urlaub. „Wie fühlst du dich denn so – als Hausbesitzer?“, fragt Helga. Ich weiß nicht, wie ich mich fühle. Es ist mir irgendwie noch nicht klar geworden, dass es so ist und was es bedeutet.
„Und weißt du, was wir beide mitnehmen, wenn wir das nächste Mal in Erlabrunn sind?“ Ich muss einen Moment überlegen, bis ich darauf komme, was Helga meint.
„Ja, ich weiß – unseren kleinen Kater …“
Viele Wege führen von unserem Beckerwitz an den Strand der Ostsee. Wir versuchen, die reizvolle Umgebung unseres Urlaubsortes aus allen Blickwinkeln kennenzulernen. Heute haben wir uns für den schmalen Sandweg entschieden, der, eingesäumt von verkrüppelten alten Weiden, durch die leicht hügelige Landschaft führt. Ausgedehnte Grasweiden und die gelben Flächen gerodeter Getreidefelder prägen das Bild zu beiden Seiten unseres Weges. Schwarzweiß gescheckte Kühe heben die Köpfe und begrüßen uns mit lautem Gebrüll. Nur vereinzelte Baumgruppen finden sich in dem ausgedehnten Weideland, und ein paar einsame Bauerngehöfte verstecken sich hinter den mächtigen Kronen betagter Laubbäume. Die alten, schilfbedeckten Gebäude ducken sich Tarnung suchend auf den Boden, fügen sich in die Landschaft, als wären sie ihr entwachsen.
Die Sonne steht Anfang September nicht mehr allzu hoch, doch die Sicht ist klar, und das malerische Vorland der Ostsee leuchtet in satten Farben.
„Richtiges Fotowetter!“, sage ich zu Helga begeistert. Wir verlassen den Sandweg und laufen quer über ein Stoppelfeld der blauen See entgegen. Die harten Stoppeln dringen zwischen den Riemchen in Helgas Sandaletten ein und erschweren ihr das Laufen. Sie hält sich bei mir fest und erzählt weiter von ihrem Mephisto.
Mephisto hieß ihr schwarzer Kater in Spremberg, ihrem alten Heimatort. Immer wieder kommt Helga auf das anhängliche Tier zu sprechen.
„Er war sehr scheu und hörte auf niemanden. Nur auf meine Stimme reagierte er. Manchmal sah ich ihn weit draußen im Feld – nur als kleinen unscheinbaren Punkt. Aber hörte er mich rufen, machte er sich gleich auf den Weg, und es dauerte nur wenige Minuten, bis er sich daheim einfand. Mephisto wusste auch genau, zu welcher Zeit ich vom Dienst kam. Er lief mir ein großes Stück entgegen und wartete dann immer an derselben Stelle. Nach freundlicher Begrüßung stieg ich wieder auf das Rad, und Mephisto trottete wie ein kleiner anhänglicher Hund die ganze Strecke bis nach Hause neben dem Fahrrad her.“
Die Katze gehört zu den ältesten Haustieren des Menschen. Wir versuchen uns an all das zu erinnern, was wir darüber schon gehört und gelesen haben. Im alten Ägypten galten Katzen als heilige Tiere und genossen die Hochachtung der Menschen. Keiner hätte es gewagt, solch ein Tier zu quälen oder zu töten. Die Kulthandlungen einer bestimmten Priesterschaft standen sogar in engem Zusammenhang mit der Wertschätzung dieser Tiere.
Wir empfinden unsere Übereinstimmung als glücklichen Umstand. Beide zählen wir zu jenen Menschen, die Katzen bewundern und Zuneigung für diese gewandten, kuscheligen Wesen empfinden.
Meine erste Bekanntschaft mit allerlei Tieren führt in die Kindheit zurück. Gern erzähle ich Helga von den Erlebnissen bei Tante Klara. Der Krieg hatte es mit sich gebracht, dass wir Chemnitz verlassen und einige Zeit bei Tante Klara in dem erzgebirgischen Dorf Sosa leben mussten. Hier waren wir vor den Bombenangriffen geschützt, und die kleine bäuerliche Wirtschaft sicherte uns das Notwendigste zum Leben. Ein mittelgroßer Raum war der Aufenthaltsort von vier Generationen – war Wohnraum und Küche in einem. Und hinter dem großen, gusseisernen Ofen wurde gebadet. Nicht selten rannten auch noch frisch geschlüpfte Küken in dem Zimmer umher, kleine Ziegen wurden aus dem Stall geholt, und selbstverständlich hatte auch eine Katze hier ihr Zuhause. Tante Klara veranstaltete mir zuliebe kleine Zirkusveranstaltungen und führte Kunststücke vor, die sie mit den Tieren eingeübt hatte. Sie war eine sehr tierliebende Frau. Und als die Katze eines Tages humpelnd durch das Fenster in die Wohnstube zurückkehrte, wurde sie behandelt und gepflegt, bis das verletzte Bein wieder in Ordnung war.
Kurz vor meiner Einschulung erhielten die Eltern endlich eine eigene, zumutbare Wohnung. Es bedeutete Umzug nach einem ganz kleinen Ort – wenige Kilometer von Sosa entfernt. Das fast 800 Meter hoch liegende Dorf war bei starkem Schneefall oft von der Umgebung abgeschnitten. Hier lebten vorrangig Bauern mit ihren Familien. Pferde und Kühe, Schafe, Hunde, Gänse und Hühner gehörten zum Alltag des Lebens in dem kleinen Ort.
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