„Ellen?“
Nichts. Meine schrille Stimme hallte von allen möglichem Steinwänden wider. Nur meine Stimme. Kein Rückruf, kein Schnaufen, Keuchen und oder Husten. Nichts.
„Ellen. Bitte. Ellen antworte doch.“
Langsam begann sich meine bereits schlechte Sicht zu trüben. Salzige Tränen rannen mir über die schmutzigen Wangen und fielen wie dicke Regentropfen in eine Schlucht, die es gar nicht geben dürfte.
„Ellen?“
Verzweifelt ließ ich die magische Illusion fallen. Die graue Staubwolke löste sich eilig auf und der hinabgefallene Untergrund schob sich wie ein Puzzle wieder zusammen. Verwoben in seiner eigentlichen Grundform, zeugte nichts mehr von dem grausamen Geschehen von vor ein paar Minuten. Die feindlichen Soldaten waren weg. Genauso wie Ellen. Ich war allein.
Vor 7 Monaten
Suna
Ich muss mich zusammenreißen. Stark sein für die anderen. Für meine Freunde und Familie. Für meine Schwester. Sorgenvoll sah ich zu ihr hinüber. Tamo musste sie vor sich auf das Pferd setzen, weil sie beinahe bewusstlos vom Pferd gefallen wäre. Nun hing sie schlaff in Tamos Armen. Das sanfte Heben ihrer Brust ist das einzige Lebenszeichen, dass ich seit Stunden an ihr erkenne kann.
Natürlich war mir klar, dass wir sie bis auf die Knochen ausgehungert vorgefunden hatten. Selbst in Merlins Versteck hatte sie kaum etwas Brot gegessen. Es war, als hätte ihr Körper keinen Platz mehr für ausreichend Nahrung. Als würde ihr schmerzlicher Verlust jeden vernünftigen Gedanken ausmerzen und ihren Körper vollständig einnehmen.
„Alles gut bei dir? Soll ich mal wieder übernehmen?“
Eilig riss ich mich von dem traurigen Anblick meiner Schwester fort. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich langsamer geworden war. Ohne Ellion anzublicken, wusste ich, dass er mich besorgt musterte. Ihm entging nicht die geringste Bewegung. Früher war mir nie klar gewesen, wie aufmerksam er seine nahe Umgebung musterte und sich über jegliches Detail eine Meinung bildete.
In Morodek war er immer so in sich verschlossen gewesen. Niemand wagte es, sich auch nur in seine Nähe zu stellen, geschweige denn, ihn anzureden. Ellion war immer schon ein Einzelgänger gewesen. Ein introvertierter Beobachter. Ein Zuhörer. Was auch hieß, er war wie geschaffen für die schwierigen Aufgaben eines Boten. Treu. Schweigsam. Unauffällig.
„Ja, alles gut. Ich mach mir nur ziemliche Sorgen um Reena. Sie muss etwas essen.“ Ich verspürte erneut meine nagende Frustration in mir aufkommen. Wenn ich etwas noch mehr hasste, als zu versagen, dann war das, nicht in der Lage zu sein, jemandem den man liebte, zu helfen.
„Mach dir keine Sorgen. Sie ist stark, sie schafft das schon.“
Ich bewunderte Ellion für seinen unbrechbaren Optimismus. Doch ich sah einfach nicht, wie Reena es lebend in unsere sichere Unterwelt schaffen sollte. Wir würden noch mindestens zwei Wochen durch die offenliegende neutrale Ebene reisen, bevor wir überhaupt versuchen würden, in die versteckte Unterwelt zu gelangen. Mir war Onkel Tamos Plan deutlich bekannt. Er würde sich nicht auf eine spontane Planänderung einlassen, dafür kannte ich meinen Onkel viel zu gut. Selbst mir war klar, dass es gerade noch zu gefährlich war, um mit Gewissheit sagen zu können, dass uns niemand verfolgte.
„Wie kannst du dir da nur so sicher sein. Sieh sie dir an! Sie besteht kaum mehr aus Haut und Knochen und nun hängt sie schon seit Stunden wie ein toter Hase in Tamos Sattel. Was ist, wenn sie nicht mehr zu sich kommt? Was, wenn sie in unseren Armen stirbt? Wäre dann alles umsonst gewesen? Unsere Bemühungen. Unsere Verluste. Unser vergossenes Blut. Die Gefahr, die wir auf uns genommen hatten.“
Hastig wischte ich mir eine salzige Träne aus dem Gesicht. Es sollte mir nicht unangenehm sein, meine Gefühle zu zeigen, besonders nicht vor den Menschen, die ich schon fast mein gesamtes Leben kenne, doch fühlte ich mich weiterhin zu verletzlich, wenn ich vor anderen weinte. Ich war schließlich eine Nyajamar. Man würde mich als weinerlicher Lappen, ertrinkend in Selbstmitleid nicht mehr ernst nehmen können.
„Sie wird es schaffen.“
Ellion erwartete keine Antwort mehr von mir. Schweigen. Etwas, wofür ich ihm sehr dankbar war. So konnte ich mich ohne schlechtes Gewissen wieder in meine verkorkste Gedankenwelt verkriechen. Es waren erst drei Tage vergangen. Drei sehr lange Tage, seit wir zu sechst das mächtige Reich von König Kan verlassen hatten. Drei verdammte Tage, seit König Kan den Lichten Reichen den Krieg erklärt hatte. Was wohl schon alles geschehen war? Wussten die anderen Königreiche über die bevorstehende Kämpfe Bescheid? Wurden Boten ausgesandt? Oder war nur ein ungutes Gefühl in der Luft, weshalb alle den Atem anhielten, lauschten und zu verstehen versuchten, was ihnen bevorstand?
Zwei Wochen waren viel zu lange. Ich konnte nur hoffen, dass niemand aus Aronien über Morodeks Existenz eingeweiht war. Die Unwissenheit der Lichten Königreiche würde uns noch etwas Zeit verschaffen. Zeit, die wir definitiv brauchen würden, um uns auf die bevorstehenden Kämpfe vorzubereiten.
Sanft führte ich mein Pferd um die nächste Biegung. Der verwachsene Pfad war gerade einmal breit genug, um zwei ausgewachsene Reittiere nebeneinander halten zu können. Seit Jahren benutzten morodekische Boten die längst in Vergessenheit geratenen Wege, um möglichst unauffällig zwischen den Reichen der Oberwelt zu reisen. Die meisten Menschen benutzen die breiten Handelswege und Hauptstraßen, auf welchen meist ein stetiges Treiben herrschte. Kleine Händler und arme Bauern fühlten sich dort geschützter, da hier hinterlistige Überfälle nicht auf der Tagesordnung standen.
Neben mir schreckte ein rotbraunes Eichhörnchen von seinem Fund hoch und rannte blitzschnell auf den nächsten Baum zu. Weit weg von möglichen Gefahren. Außer Reichweite von dem großen Unbekannten. Genauso fühlte ich mich auch gerade. Auf der Flucht vor König Kans Männern, die wahrscheinlich noch nicht mal mitbekommen hatten, dass wir die stinkenden Gassen ihrer monströsen Hauptstadt verlassen hatten.
Schnell. Verlass den Weg.
Verwirrt sah ich mich um. Was war das nur für eine merkwürdige Stimme? Doch niemand meiner müden Begleiter schien das geheimnisvolle Flüstern vernommen zu haben. Tagträume. Ich war erschöpft und mein Geist spielte mir schon Spielchen vor. Genervt schüttelte ich meinen Kopf.
Schnell. Es bleibt keine Zeit. Vertraue und verlass den Weg.
Die Dringlichkeit in dem Flüstern hatte drastisch zugenommen und ohne, dass ich für mich selbst entscheiden konnte, ob ich der verrückten Stimme in meinem Kopf vertrauen möchte, hatte mein Körper das Steuer übernommen und riss kräftig an den Zügeln. Ich führte mein Pferd mitten in das nächste Gebüsch. Verdammt. Das würde mehr als ungemütlich werden.
„Suna? Was machst du?“
Tamo und Lorca hatten angehalten und sahen mich mit fragenden Augen an. Wie sollte ich ihnen das nur erklären? ‚Eine geheimnisvolle Stimme hatte in meinem Kopf zu mir gesprochen und als ich nicht tat, was sie wollte, begann sie Herr über meinen Körper zu werden.‘ Ganz klar, sie würden mich für zu erschöpft halten und ab nun Ellion reiten lassen. Doch ich spürte ganz genau, dass etwas Wahres daran war. Alles in mir zog sich schmerzhaft zusammen. Ich konnte beinahe fühlen, wie sich mein mageres Frühstück seinen Weg nach oben herausbahnte. Irgendetwas näherte sich uns. Irgendetwas, dem nichts an unserem Wohlbefinden lag.
„Ich weiß es nicht. Aber bitte vertraut mir, wir müssen von diesem verdammten Weg herunter. Ich kann es euch nicht erklären, aber ich weiß es einfach.“
Bettelnd sah ich sie an. Irgendetwas stimmte nicht, ob nun mit mir oder diesem verwachsenen Pfad war nun auch schon egal. Lange würde ich so nicht mehr durchhalten. Jede Faser, jeder Muskel verkrampfte. Ich hatte Schmerzen in Körperarealen, von denen ich noch nicht mal wusste, dass man dort derartige Schmerzen verspüren konnte. Langsam begann sich nun auch meine Sicht zu verschlechtern. Schwarze Punkte sirrten vor meinen Augen und ließen alles aufs Unkenntliche verschwimmen.
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