Letztlich spielte es wohl auch keine Rolle. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen.
»Mh.« Emma machte sich eine Notiz und tippte sich mit dem Stift auf ihr Kinn. »Im Moment ist unser Problem, dass wir zu viele einzelne Informationen haben, die wir nicht zusammenfügen können.«
Sie schlug ihr Notizheft an einer leeren Stelle auf und schrieb oben aufs Blatt: Dolch, Feder, Ring, Amulett – Karte?
»Du hast uns erzählt, dass Jaydee und du den Dolch und die Feder mit seinem Jadestein zusammengehalten habt und sie eine Art Karte bildeten.«
»Das ist ewig her, aber ja.« Das hatten wir getan, kurz nachdem Jaydee aus diesem schrecklichen Fieberwahn gefallen war. Er und ich hatten in der Bibliothek gesessen und waren dem nachgegangen.
»Vielleicht bilden die Gegenstände nach wie vor diese Karte«, sagte Emma. »Wobei wir dazu die Sachen erst mal haben müssten, genau wie ein Stück Jade aus dem Gefängnis.«
»Von denen es reichlich im Tempel gibt«, sagte Akil.
»In den wir nicht kommen«, erwiderte ich. Akil war mit Ikarius dort gewesen und wäre fast von Lilijas Leuten, die das Gelände bewachten, gefangen genommen worden.
»Also erst mal eine Sackgasse«, sagte Emma und setzte ein dickes Fragezeichen unter das Ganze. »Weiter: Jaydee ist Lilijas Geschöpf und verbindet alle Elemente miteinander. Wie genau geht es jetzt weiter?«
»Sie nutzen die Stärke der Natur«, erklang Ikarius’ Stimme auf einmal. Ich blickte über meine Schulter. Seit er aus dem Tempel zurück war, sprach er wieder laut. Vorher hatte er sich auf die telepathische Kommunikation beschränkt, nun nicht mehr. Er meinte, es hinge mit der Zerstörung der Harfe zusammen und dass seither ein Schleier von seiner Stimme gelüftet worden sei. Wir hatten uns auch öfter darüber unterhalten, ob seine Schwester River wohl auch Veränderungen wahrgenommen hatte, doch bedauerlicherweise war sie irgendwo in den Trümmern des Tempels begraben worden. Wir hatten sie bei unserer Flucht nicht retten können.
Ikarius blieb bei uns stehen und blickte über das Land, das unter uns lag. Seine weißen Haare wehten in einem Wind, der nicht da war, sein Gesicht war stärker vernarbt als zuvor. Marysol hatte ihm die Noten, die einst dort gewesen waren, aus der Haut geschnitten. Die Wunden waren zwar abgeheilt, aber die Spuren würden nie ganz verschwinden. »Die Energie in Kambodscha steigt bedrohlich an.«
»Woher weißt du das?«, fragte ich.
»Ich war in der Nähe von Tashis Anwesen.«
»Verflucht, Ikarius!«, zischte Akil. »Wir haben gesagt, dass wir damit warten und uns still verhalten.«
»Ich weiß, ich … Ich musste es dennoch tun. Ich musste in ihrer Nähe sein. Fühlen, was vor sich geht. Marysol war ein Teil meiner Familie.«
»Du bist ein Narr. Was, wenn dich jemand bemerkt hat?«
»Ich war vorsichtig. Meine Aura blieb getarnt.« Er setzte sich zu uns, zog die Beine an und hielt sein Gesicht in den Wind. Sofort entspannten sich seine Züge. »Es gibt Erdbeben und erste Unwetter. Die Natur reagiert auf Jaydees Anwesenheit. Es braut sich was zusammen. Sogar die Tiere ziehen sich zurück, weil sie es spüren.«
»Und wie sollen sie die Stärke der Natur nutzen?«, fragte Emma. »Was meinst du damit?«
»Das war Lilijas Plan«, sagte Akil. »Ilai hatte es mir oft erzählt. Sie war besessen davon, alle Elemente in einem Körper zu vereinen, um so mehr Macht zu erlangen und gegen die Schattendämonen besser kämpfen zu können.«
»Ein Mann gegen so viele Schattendämonen?«, fragte Emma. »Selbst mit der Kraft der vier Elemente erscheint mir das wagemutig.«
»Unterschätze das nicht«, sagte Akil. »Lilija wollte alle Essenzen in einem Körper vereinen, er wird stärker als das Leben selbst, er wird wie … wie ein Gott.«
Mich schauderte, als Akil das Wort aussprach, so wie mich immer schauderte, wenn ich an Jaydee dachte und das, was ich verloren hatte.
»Kein Körper kann so viel Macht auf einmal halten«, fuhr Akil fort. »Jaydee ist eine tickende Zeitbombe, die jederzeit hochgehen kann. Ilai war stets der Meinung, dass er das Chaos bringen würde, er hatte ja sogar den Auftrag, Jaydee zu töten.«
»Aber es gibt keine Beweise dafür, dass es so ist, oder?«, fragte Emma. »Möglicherweise schafft Jaydee auch Frieden.«
»Tja, da niemand Erfahrungswerte mit einem Wesen wie ihm hat, kann auch das sein. Alles ist möglich.«
Sie nickte und schrieb hinter Jaydees Namen: Zu viel Kraft – kann aber Schattendämonen vernichten.
»Na gut«, sagte sie. »Wir haben Jaydee auf der einen Seite und Jess auf der anderen. Ihr seid füreinander geschaffen. Du kannst ihn erden und bist im Grunde seine Schwachstelle. Das hat Sophia sichergestellt, weshalb es ja auch die Nachfahren gibt. Du bist aber eine ganz besondere unter ihnen. Deine Gabe ist sehr stark, was du bewiesen hast, als du Lilija ohne die Harfe befreit hast.«
»Erinner mich nicht daran!« Einer der schrecklichsten Momente in diesem ganzen Mist.
»Ich will keine Wunden aufkratzen, ich will nur alles verstehen. Tut mir leid.«
»Schon gut, du hast ja recht. Ich weiß allerdings nicht, wie ich meine Gabe einsetzen könnte, um gegen Jaydee vorzugehen. Sie ist zwar in mir drinnen und ich spüre die Macht, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich viel ausrichten kann.«
»Dennoch glaube ich, dass hier der Schlüssel liegt. Es läuft auf eine Sache hinaus: Die Einzige, die uns wirklich weiterhelfen kann, ist Sophia, denn sie kennt euch beide am besten.«
»Es gibt genau zwei Möglichkeiten, wie wir mit ihr Kontakt aufnehmen können«, sagte ich: »Über den Schädel und die Stimmgabel, so wie Keira es einst getan hat. Oder wir schaffen wieder die Verbindung über Ashriels Anwesen, das ist Jaydee und mir gelungen. Allerdings hatten wir da den Dolch dabei. Ich habe ihn in das Seelenwächtersymbol in Ashriels Anwesen getrieben und so eine Tür zu den Archiven geöffnet.« Keine Ahnung, ob das auch ohne diese Waffe gelingen würde.
»Welchen Schädel?«, fragte Emma.
»Von Leander. Das war Sophias Mann, als sie menschlich wurde. Im Grunde also mein Urahne. Wenn man die Stimmgabel an den Schädel hält und vorher einen Ton erzeugt, öffnet die Schwingung ein Portal zu den Archiven. Aber der Schädel ist mit der Bibliothek in die Luft geflogen.«
»Also bleibt nur Ashriel im Moment«, sagte Ikarius.
»Ja. Sie hat auch die Stimmgabel.«
»Wie hängt sie mit allem zusammen?«, fragte Emma, blätterte wieder um und hielt ihren Stift bereit, um sich Notizen zu machen.
»Ashriel, oder auch Katarina, lebte 650 vor Christus und war einst Musikerin am Hofe eines Königs namens Ancus Marcius. Die beiden waren wie Jaxon und ich, wie Andrew und Anna. Gegensätze, von Licht und Schatten, wenn man uns so nennen will. Katarina traf im Laufe ihres Menschenlebens auch auf Cem, den Seelenwächter, der Lilija geholfen hatte und der die vier Gegenstände hätte hüten sollen. Darüber wurde er allerdings verrückt. Katarina tötete ihn mit dem Dolch und nahm so seinen Platz ein. Kurz darauf wurde sie selbst zur Seelenwächterin, aber der Wahnsinn griff auch nach ihr und sie wurde zu Ashriel. Aus ihrer Familie formte sich Horatio, ein abstruses Wesen, das seine Gestalt ändern kann und genauso verrückt ist wie sie. Ashriels Reich folgt im Grunde seinen eigenen Regeln. Nach außen hin ist es ein Theater, in das sie arme Seelen einsperrt, im Kern aber ist es ein Seelenwächteranwesen. Jaydee und ich haben es betreten, als er die Stimmgabel in Ashriels Garderobe benutzt hat.«
»Okay«, sagte Emma und schrieb sich alles in Stichpunkten auf. »Aber Ashriel hat doch auch deiner Mutter geholfen.«
»Richtig. Bisher ist Mum die Einzige, die Hilfe bekam, wobei diese nicht unbedingt positiv war. Immerhin hat Ashriel ihr ein schwarzmagisches Ritual überlassen, das einen Teil meiner Seele abgelöst und Mum in eine Höllendimension gesteckt hat.«
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