Es waren die Folgen dieser letzten Hypothese, an die Herr Sergius dachte. Er sprach mit Herrn Cascabel davon, während sein forschender Blick über den in Nebeln verschwimmenden Horizont hinschweifte.
»Meine Freunde,« sagte er, »wir befinden uns ohne Zweifel in großer Gefahr, da die Eistafel jeden Augenblick unter uns zusammenbrechen kann und wir dieselbe nicht zu verlassen vermögen.«
»Ist das die größte Gefahr, die uns droht?« fragte Herr Cascabel.
»Augenblicklich ja!« antwortete Herr Sergius; »aber beim Eintritt neuer Kälte wird diese Gefahr sich verringern und schließlich sogar schwinden. Und in dieser Jahreszeit, unter dieser Breite ist es unmöglich, daß die Temperatur sich länger als einige Tage auf dieser Höhe erhalte.«
»Sie haben recht, Herr Sergius,« sagte Jean. »Aber. wohin wird die Eistafel gehen, wenn sie erhalten bleibt?«
»Meiner Ansicht nach wird sie keinesfalls sehr weit treiben, sondern bald an irgend ein Eisfeld stoßen und anfrieren. Sowie das Meer endgültig dann zufriert, werden wir das Festland zu erreichen suchen, um unsern alten Reiseplan wieder aufzunehmen.«
»Und wie werden wir unser versunkenes Gespann ersetzen?« rief Herr Cascabel. »Ach! meine armen Tiere! meine armen Tiere!. Herr Sergius, diese wackeren Tiere gehörten zur Familie und es ist meine Schuld, wenn.«
Herr Cascabel war untröstlich. Sein Kummer kannte keine Grenzen mehr. Er klagte sich an, jene Katastrophe herbeigeführt zu haben. Mit Pferden über ein Meer setzen -hatte man je so etwas gehört?. Und er dachte vielleicht mehr an die Tiere selber, als an die Verlegenheit, die ihr Verschwinden ihm bereitete.
»Ja, es ist ein unersetzlicher Verlust in der Lage, in welche jener Eisbruch uns versetzt hat,« sagte Herr Sergius. »Wir Männer können die Entbehrungen und Anstrengungen, die er nach sich zieht, noch allenfalls ertragen. Aber was werden Frau Cascabel, was werden Kayette und Napoleone, die beide fast noch Kinder sind, anfangen, wenn wir die Belle-Roulotte zurücklassen?«
»Zurücklassen!.« schrie Herr Cascabel auf.
»Es wird dahin kommen, Vater!«
»Wahrhaftig,« sagte Herr Cascabel, sich selber mit der Faust drohend »es hieß Gott versuchen, daß ich eine solche Reise unternahm!. Einen solchen Weg einzuschlagen, um nach Europa zurückzukehren!«
»Seien Sie nicht kleinmütig, mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »Blicken wir der Gefahr ohne Zagen ins Auge! Das ist das sicherste Mittel sie zu überwinden!«
»Siehst du, Vater,« fügte Jean hinzu, »was geschehen ist, ist geschehen, und wir waren alle einverstanden, daß es geschehen solle. Klage dich also keiner allzu großen Unbesonnenheit an und sei so energisch wie früher.«
Aber trotz dieser ermutigenden Reden war Herr Cascabel niedergeschlagen; sein Selbstvertrauen, seine natürliche Philosophie hatten einen rauhen Stoß erhalten.
Inzwischen suchte Herr Sergius mit allen ihm zu Gebote stehenden Behelfen, Benützung des Kompasses und aller möglichen Orientierungspunkte, die Richtung der Strömung zu ermitteln. Dieser Art der Beobachtung widmete er sogar die wenigen Tagesstunden, welche den Horizont erhellten.
Es war keine leichte Arbeit, denn die Orientierungspunkte verschoben sich unaufhörlich. Überdies schien das Meer jenseits der Meerenge weit und breit eisfrei zu sein. Man sah, daß das arktische Eisfeld bei der anormalen Temperatur noch gar nicht völlig gebildet gewesen war. Wenn es einige Tage so geschienen, so war es, weil die unter dem Einflusse der bewußten Strömungen von Süden und von Norden kommenden Schollen sich in der engen Straße zwischen beiden Festländern gestaut hatten.
Auf Grund seiner vielfachen Beobachtungen glaubte Herr Sergius behaupten zu können, daß die verfolgte Richtung sich sehr merklich gegen Nordwesten wende. Das rührte zweifellos daher, daß die Strömung, nachdem sie die Beringstraße hinter sich gelassen, in weitem Bogen, über den Polarkreis hinaus, um die sibirische Küste herumfloß.
Zugleich konnte Herr Sergius konstatieren, daß der noch immer wütende Sturm voll aus Südost blies. Wenn er kurze Zeit hindurch aus Süden zu kommen schien, so war das, weil die Anlage der Küsten seine allgemeine Richtung beeinträchtigt hatte, bis er nun auf hoher See dazu zurückkehrte.
Sobald dieser Sachverhalt ermittelt worden, begab Herr Sergius sich zu Cäsar Cascabel und erklärte ihm, daß man sich unter den obwaltenden Verhältnissen nichts besseres wünschen könne. Diese gute Nachricht beruhigte das Familienoberhaupt ein wenig.
»Ja,« erwiderte er; »es ist immerhin etwas, gerade in der Richtung fortzukommen, welche man einschlagen gewollt!. Aber, welch ein Umweg, großer Gott, welch ein Umweg!«
Die Schiffbrüchigen gingen nun daran, sich möglichst gut einzurichten, als ob ihr Aufenthalt auf dem schwimmenden Eiland von langer Dauer sein sollte. Vor allem beschloß man, auch fernerhin in der Belle-Roulotte zu wohnen, die weniger dem Umwerfen ausgesetzt war, da sie dem Anprall des Orkans nachgab.
Cornelia, Kayette und Napoleone durften sie wieder besteigen und sich mit der Küche befassen, die vierundzwanzig Stunden lang absolut vernachlässigt worden war. Das Mahl war bald bereitet; man setzte sich zu Tische; und wenn die Speisen auch nicht wie gewöhnlich durch frohe Reden gewürzt wurden, so stärkten sie doch die seit ihrem Aufbruch von der Insel Diomedes so schwer geprüften Tischgenossen.
So endete dieser Tag. Die Windstöße fuhren noch immer mit furchtbarer Gewalt herab. Der Raum belebte sich mit schwirrenden Vögeln, Schneehühnern und jenen anderen, welche man so richtig als Sturmvögel bezeichnet.
Die folgenden vier Tage brachten keinen Umschwung. Der Wind wehte noch immer aus Osten und veränderte den Zustand der Atmosphäre nicht.
Herr Sergius hatte die Form und Ausdehnung der Eistafel sorgfältig untersucht. Sie bildete ein ungleichmäßiges Viereck und war dreihundertfünfzig bis vierhundert Fuß lang und etwa hundert Fuß breit. Dieses Viereck, dessen Kanten mindestens eine halbe Klafter aus dem Wasser emporragten, war in seiner Mitte leicht gewölbt. Die Oberfläche zeigte keinen Riß, wenngleich ein dumpfes Krachen zuweilen darüber hinlief. Seine Festigkeit schien also - wenigstens bisher - nicht durch den Anprall von Wind und Wellen gelitten zu haben.
Die Belle-Roulotte war nicht ohne große Anstrengungen in die Mitte der Eistafel gebracht worden. Dort hatte man sie mit den Seilen und Stangen des bei früheren Jahrmarktsvorstellungen benützten Zeltes so stark befestigt, daß sie nicht mehr Gefahr lief, umgestürzt zu werden.
Am beunruhigendsten aber waren die heftigen Zusammenstöße mit großen Eisbergen, die sich mit ungleicher Schnelligkeit fortbewegten, je nachdem sie in Strömungen oder Wirbel hineingerieten. Einige dieser Eisberge, von fünfzehn bis zwanzig Fuß Höhe, schienen sich wie beim Entern auf die Eistafel stürzen zu wollen. Man gewahrte sie von weitem, man sah sie kommen und vermochte ihrer brutalen Berührung doch nicht auszuweichen, es gab welche, die lärmend umschlugen, wenn die Verschiebung ihres Schwerpunktes ihr Gleichgewicht störte; aber wenn sie anstießen, so war die Erschütterung äußerst bedenklich. Die Stöße waren oft so stark, daß alles im Innern des Wagens zerbrochen wäre, wenn man nicht rechtzeitig gewisse Vorsichtsmaßregeln getroffen hätte. Man sah sich immerwährend der Gefahr einer möglichen und jähen Katastrophe ausgesetzt. Sobald daher das Nahen irgend eines großen Blockes gemeldet wurde, versammelten Herr Sergius und seine Gefährten sich um die Belle-Roulotte und klammerten sich an einander an. Jean suchte in Kayettens Nähe zu kommen. Die schrecklichste von allen Möglichkeiten wäre die gewesen, getrennt, auf verschiedenen Trümmern der Eistafel fortgeschwemmt zu werden. Übrigens gewährte die Tafel weniger Sicherheit an ihren Rändern, als in der Mitte, wo ihr Durchmesser bedeutender war.
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