Hingegen kommen die Robben - ein Gattungsname, welcher zur allgemeinen Bezeichnung der Seehunde, Seebären und Seelöwen dient - hier in so unzähligen Trupps zusammen, daß ihre Rasse niemals erlöschen zu sollen scheint.
Und doch! welche Jagd man während der heißen Jahreszeit auf sie macht! Die Jäger verfolgen sie ohne Gnade bis in die »Rookeries«, jene Art natürlicher Gehege, wo die Familien sich gruppieren. Namentlich die ausgewachsenen Tiere werden unbarmherzig aufgespürt, und die Rasse würde schließlich verschwinden, wenn sie nicht so außerordentlich fruchtbar wäre.
Nach angestellten Berechnungen sind von 1867 bis 1880 in den Gehegen der Beringinsel allein 388982 Robben getötet worden. Auf den Pribyloff-Inseln haben die alaskischen Fischer im Laufe des Jahrhunderts 3500000 Felle gesammelt, und noch heute liefern sie jährlich mindestens 100000.
Und wie viele bleiben nicht noch auf den übrigen Inseln des Beringmeeres! Herr Sergius und seine Gefährten konnten sich einen Begriff davon machen nach dem, was sie auf der Insel Diomedes sahen. Das ganze Ufer wimmelte von Seehunden, die so dicht gedrängt lagen, daß man nichts von der Schneedecke unter ihnen gewahrte.
Wenn man sie indessen betrachtete, so betrachteten auch sie die Besucher der kleinen Insel. Regungslos, unruhig, vielleicht gereizt über diese Besitzergreifung ihrer Domäne, suchten sie nicht zu fliehen und stießen hin und wieder eine Art langgezogenes Blöken aus, dem man eine gewisse Wut anhörte. Dann richteten sie sich in die Höhe und schlugen heftig mit ihren fächerförmig ausgespreizten Schwimmflossen.
Ah! wenn diese Tausende von Seehunden, wie der junge Xander gewünscht, die Gabe der Rede besessen hätten, welch ein Donner von Papas von ihren bärtigen Lippen erschollen wäre!
Selbstverständlich kam es weder Herrn Sergius, noch Jean in den Sinn, auf dieses Heer von Seehunden zu schießen. Zwar lief dort, wie Herr Cascabel sagte, »ein Vermögen an Fellen herum«. Aber es wäre ein nutzloses und sogar gefährliches Gemetzel gewesen. Die Tiere, furchtbar durch ihre Anzahl, hätten die Lage der Belle-Roulotte sehr bedenklich gestalten können. Herr Sergius empfahl denn auch die äußerste Vorsicht.
Andererseits aber enthielt die Anwesenheit so vieler Seehunde auf der kleinen Insel einen Fingerzeig, den man nicht unbeachtet lassen durfte. Mußte man sich doch fragen, warum die Tiere diese Felsenriffe aufgesucht hatten, die ihnen keinerlei Hilfsquellen boten.
Diesbezüglich fand eine sehr ernste Erörterung zwischen Herrn Sergius, Cäsar Cascabel und dessen ältestem Sohne statt. Sie hatten sich in die Mitte der Insel begeben, während die Frauen ihren häuslichen Pflichten oblagen und Clou und Xander die Tiere versorgten.
Herr Sergius leitete die Erörterung mit den Worten ein:
»Meine Freunde, wir müssen ermitteln, ob es besser wäre, die Insel Diomedes zu verlassen, sobald das Gespann ausgeruht hat, oder unsere Rast hier zu verlängern!.«
»Herr Sergius,« antwortete Cäsar Cascabel »ich glaube, wir sollten uns nicht aufhalten, um auf diesem Felsen Robinson zu spielen!. Ich gestehe, ich habe Eile, ein Stück sibirischer Küste unter meiner Ferse zu spüren!«
»Das ist begreiflich, Vater,« versetzte Jean; »und doch ist es nicht ratsam, sich Gefahren auszusetzen, wie wir's bisher gethan haben. Was wäre aus uns geworden ohne diese kleine Insel? Es ist noch etwa zehn Meilen Weges bis Numana.«
»Nun, Jean, mit einiger Anstrengung könnten die Pferde das in zwei bis drei Etappen überwinden.«
»Das ginge schwer,« antwortete Jean, »selbst wenn der Zustand des Eisfeldes es gestattete!«
»Ich glaube, Jean hat recht,« bemerkte Herr Sergius. »Es ist selbstverständlich, daß wir Eile haben, über die Meerenge zu kommen; aber da die Temperatur so unvermutet mild geworden, scheint es mir nicht recht weise, das feste Land zu verlassen. Wir sind zu früh von Port-Clarence aufgebrochen, sehen wir zu, daß wir nicht zu früh von der Insel Diomedes aufbrechen! So viel ist gewiß, die Meerenge ist nicht in ihrer ganzen Ausdehnung fest zugefroren.«
»Und daher jenes Krachen, das ich noch gestern hörte,« fügte Jean hinzu. »Es rührt offenbar von der ungenügenden Verbindung der Schollen her.«
»Ja, das ist ein Beweis,« antwortete Herr Sergius; und es giebt noch einen.«
»Welchen?.« fragte Jean.
»Einen, der mir nicht minder überzeugend scheint: es ist die Anwesenheit dieser Tausende von Seehunden, welche ihr Instinkt auf die Insel Diomedes getrieben hat. Ohne Zweifel waren diese Tiere auf der Wanderung aus den nördlicheren Seestrichen nach der Beringinsel oder den Aleuten begriffen, als sie irgend ein nahes Unheil witterten. Sie werden gefühlt haben, daß sie nicht auf dem Eisfeld bleiben durften. Bereitet sich unter dem Einfluß der Temperatur ein Umschwung vor, oder droht irgend eine unterseeische Naturerscheinung, welche das Eisfeld unsicher macht? ich weiß es nicht. Aber wenn wir Eile haben, die sibirische Küste zu gewinnen, so werden diese Tiere nicht weniger Eile haben, ihre Rookeries auf der Beringinsel oder den Pribyloffinseln zu erreichen; und wenn sie auf der Insel Diomedes Halt machen, so müssen sie triftige Gründe dazu haben.«
»Und was ist also ihre Meinung, Herr Sergius?« fragte Herr Cascabel.
»Meine Meinung ist, daß wir solange hier bleiben sollen, bis die Seehunde uns durch ihren eigenen Aufbruch anzeigen, daß wir ohne Gefahr weiter reisen können.«
»Teufel!. Das ist ein höllisches Mißgeschick!«
»Kein sehr ernstes, Vater,« versetzte Jean; »hoffen wir, daß wir nie ein schlimmeres erfahren werden!«
»Zudem kann dieser Zustand nicht lange anhalten,« fügte Herr Sergius hinzu. »So lange der Winter auch heuer auf sich warten läßt, so sind wir doch bald zu Ende Oktober, und wenngleich das Thermometer augenblicklich auf Null steht, so kann es doch von einem Tage auf den andern um 20 Grad sinken. Sobald der Wind nach Norden umspringt, wird das Eisfeld so zuverlässig wie das Festland sein. Folglich ist es meine wohlerwogene Meinung, daß wir warten sollen, wenn wir nicht zum Aufbruch gezwungen werden.«
Das war zum mindesten vernünftig. Und so beschloß man denn, daß die Belle-Roulotte solange auf der Insel Diomedes verweilen solle, bis der Übergang über die Meerenge infolge eines intensiven Frostes gefahrlos geworden sei.
Im Laufe des Tages besichtigten Herr Sergius und Jean einen Teil jener Granitmasse, die ihnen so volle Sicherheit gewährte. Die Insel hatte einen Umfang von drei Kilometern. Selbst im Sommer mußte sie absolut unfruchtbar sein. Eine Anhäufung von Felsen, nichts weiter. Aber trotzdem würde sie eine genügende Unterlage für die Pfeiler der von Frau Cascabel gewünschten Beringsbrücke bilden können, falls die russischen und amerikanischen Ingenieure je daran denken sollten, die beiden Kontinente zu vereinen - im Gegensatze zu dem, was Herr v. Lesseps so gern thut.
Auf ihrem Spaziergange hüteten die Besucher sich wohl, die Seehunde zu erschrecken. Und dennoch war es augenscheinlich, daß die Gegenwart menschlicher Wesen diese Tiere in einem mindestens eigentümlichen Zustande der Aufregung erhielt. Es waren große Männchen unter ihnen, welche heisere Töne ausstießen und ihre Familien um sich versammelten - meist sehr zahlreiche Familien, denn sie sind Polygamisten und vierzig bis fünfzig ausgewachsene Seehunde erkennen gewöhnlich einen Vater an.
Diese ziemlich unfreundliche Stimmung beunruhigte Herrn Sergius, besonders als er eine gewisse Neigung der Seehunde bemerkte, sich dem Lager zu nähern. Einzeln waren sie nicht zu fürchten; aber es würde schwer, sogar unmöglich sein, solchen Massen zu widerstehen, wenn ihre Stimmung sie veranlaßte, die Eindringlinge zu vertreiben, welche ihnen den Besitz der Insel Diomedes streitig machten. Auch Jean fiel diese Absonderlichkeit auf, und er und Herr Sergius kehrten ziemlich beunruhigt zurück.
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