Der Tag verlief ohne Zwischenfall, nur daß die von Südosten wehende Brise stärker ward. Offenbar war irgend ein großer Sturm im Anzuge, vielleicht einer jener heftigen Polarstürme, die mehrere Tage hindurch wüten, - darauf deutete das jähe Sinken der Barometersäule, die zweiundsiebzig Centigrade aufwies.
Die Nacht ließ sich also sehr schlecht an. Und dazu hatten die Reisenden sich noch kaum ins Innere der Belle-Roulotte zurückgezogen, als ein tausendstimmiges Geheul, über dessen
Natur man sich nicht täuschen konnte, den Lärm der Windstöße vergrößerte. Die Seehunde hatten sich dem Gefährt genähert und begannen auf dasselbe einzudringen. Die Pferde schnaubten vor Angst, einen Angriff dieser Massen gewärtigend, welche Wagram und Marengo in ohnmächtiger Wut anbellten. Man mußte wieder aufstehen, hinauseilen und Vermout und Gladiator dicht zum Wagen bringen, um über sie wachen zu können. Revolver und Flinten wurden geladen. Indessen riet Herr Sergius, sich derselben nur im äußersten Notfalle zu bedienen. Die Nacht war schwarz. Da man in der tiefen Dunkelheit nichts sehen konnte, zündete man die Wagenlaternen an. Bei ihrem Scheine erblickte man Tausende von Seehunden, welche die Belle-Roulotte umringten und zweifelsohne nur auf den Tag warteten, um sie anzugreifen.
»Wenn sie sich auf uns stürzen, so wird kein Widerstand möglich sein,« sagte Herr Sergius; »wir laufen Gefahr, unter ihren Massen erdrückt zu werden.«
»Was thun?.« fragte Jean.
»Wir müssen fort!«
»Wann?.« fragte Herr Cascabel.
»Augenblicklich!« antwortete Herr Sergius.
Hatte Herr Sergius angesichts dieser gewiß sehr ernsten Gefahr recht, die Insel verlassen zu wollen? Ja, es war der einzig mögliche Ausweg. Sehr wahrscheinlich wollten die Seehunde die auf ihrem Gebiete Obdach suchenden Menschen bloß vertreiben und würden sie nicht über das Eisfeld verfolgen. Andererseits wäre der Versuch, sie mit Gewalt zu zerstreuen, mehr als unvorsichtig gewesen. Was vermochten Flinten und Revolver wider diese Tausende von Tieren?
Die Pferde wurden eingespannt; die Frauen zogen sich in ihre Abteilungen zurück; und die Männer schritten, zur Verteidigung bereit, auf beiden Seiten des Gefährtes einher, welches sich von neuem gen Westen bewegte.
Die Nacht war so stichfinster, daß die Wagenlaternen die Fläche kaum zwanzig Schritt weit zu beleuchten vermochten. Inzwischen brach der Sturm in voller Wut los. Es schneite nicht; die Flocken, welche durch die Luft flatterten, hatte der Wind von der Oberfläche des Eisfeldes aufgewirbelt.
Wäre das Eis nur völlig fest gewesen! Aber das war es nicht. Man fühlte die Schollen mit lang gezogenem Krachen nachgeben. Spalten entstanden, durch welche das Meerwasser emporspritzte.
So ging es während einer Stunde weiter, unter beständiger Furcht, daß man einbrechen werde. Es war nicht mehr möglich, eine genaue Richtung einzuhalten, wenngleich Jean dieselbe wohl oder übel nach der Magnetnadel zu bestimmen suchte. Zum Glück hatte man auf dem Marsche nach der Westküste nicht so, wie bei der Insel Diomedes zu befürchten, daß man sie links oder rechts von sich liegen lassen werde, ohne sie zu bemerken. Die sibirische Küste dehnte sich zehn Meilen weit am Horizonte aus und war somit nicht zu verfehlen.
Aber man mußte sie erreichen, und die erste Bedingung dazu war, daß die Belle-Roulotte nicht in den Tiefen des Beringmeeres versinke!
Wenn diese Gefahr aber auch die drohendste war, so war sie doch nicht die einzige. Dem Anprall des wütenden Sturmes von der Seite ausgesetzt, drohte das Gefährt jeden Augenblick umzuschlagen. Vorsichtshalber hatte man sogar Cornelia, Napoleone und Kayette aussteigen lassen müssen. Herr Sergius und Herr Cascabel, Jean, Xander und Clou klammerten sich an die Räder und mühten sich, den Wagen aufrecht zu halten. Man kann sich denken, wie langsam die Pferde unter diesen Umständen weiterkamen und wie schwer sie sich auf den Beinen hielten.
Gegen halb sechs Uhr morgens - am neunundzwanzigsten Oktober - inmitten einer ebenso dichten Finsternis wie die, welche die Räume zwischen den Sternen erfüllt, war man gezwungen, Halt zu machen. Das Gespann kam nicht weiter. Die Eisfläche hob und senkte sich unter dem Einfluß der Wogen, welche der Sturm aus den südlicheren Strichen des Beringmeeres herauftrieb.
»Was ist da zu machen?.« fragte Jean.
»Wir müssen auf die Insel zurückkehren!« rief Cornelia, der es nicht gelang, die tödlich erschrockene Napoleone zu beruhigen.
»Das ist jetzt nicht mehr möglich!« antwortete Herr Sergius.
»Warum nicht?« entgegnete Herr Cascabel. »Ich schlage mich noch immer lieber mit Seehunden herum, als.«
»Ich wiederhole Ihnen, daß es uns jetzt unmöglich ist, auf die Insel zurückzukehren!« erklärte Herr Sergius. »Wir müßten gegen den Sturm gehen und unser Wagen könnte ihm keinen Widerstand leisten! Er wird zertrümmert, wenn er nicht vor dem Sturm flieht!.«
»Wenn wir nur nicht gezwungen werden, ihn im Stiche zu lassen!.« sagte Jean.
»Ihn im Stiche lassen!« rief Herr Cascabel. »Und was soll ohne unsere Belle-Roulotte aus uns werden?.«
»Wir werden alles thun, um es nicht dazu kommen zu lassen!« antwortete Herr Sergius. »Ja!. Dieser Wagen ist unser Heil und wir werden ihn um jeden Preis zu retten suchen.«
»Also ist es nicht möglich umzukehren?.« fragte Herr Cascabel.
»Nein; wir müssen vorwärts zu kommen suchen!« erwiderte Herr Sergius. »Nur Mut, kaltes Blut und wir werden Numana schon erreichen!«
Diese Worte wirkten neubelebend auf alle. Es war nur allzu klar, daß der Sturm die Rückkehr nach der Insel Diomedes unmöglich machte. Er blies mit solchem Ungestüm aus
Südosten, daß weder Tier noch Menschen wider ihn anzukämpfen vermochten.
Die Belle-Roulotte konnte nicht einmal mehr stehend verharren. Der bloße Versuch, den Luftdruck auszuhalten, hätte sie zu Falle gebracht.
Gegen zehn Uhr war der Tag teilweise angebrochen - ein grauer, uebliger Tag. Die niedrigen, zerrissenen Wolken fegten wie Dunst über die Meerenge hin. Schnee und Eissplitter wirbelten durch die Luft. Unter so ungünstigen Umständen legte man in anderthalb Stunden nur eine halbe Meile zurück, da man auch noch die Wasserlachen und die auf dem Eisfeld angehäuften Schollen umgehen mußte. Der vom offenen Meere herrollende Wogenschlag ließ die ganze Fläche unaufhörlich schwanken und krachen.
Plötzlich, gegen drei Viertel auf Eins, verspürte man eine heftige Erschütterung. Ein weites Netz von strahlenförmigen Rissen wurde rings um das Gefährt sichtbar. Unter den Hufen des Gespanns that sich ein Spalt von dreißig Fuß Breite auf.
Ein Warnungsruf des Herrn Sergius brachte seine Gefährten wenige Schritte vor diesem Spalt zum Stehen.
»Unsere Pferde!. Unsere Pferde!.« schrie Jean. »Vater, retten wir unsere Pferde!.«
Es war zu spät. Die armen Tiere verschwanden unter den einbrechenden Eistafeln. Wären die Deichsel und die Stränge nicht abgerissen, so würde die Belle-Roulotte ebenfalls in die Tiefen des Meeres gestürzt sein.
»Unsere armen Tiere!« rief Herr Cascabel verzweifelt.
Ja! Die alten Freunde des Gauklers, mit denen er die Welt durchstreift hatte, die treuen Gefährten, die sein Wanderleben solange geteilt, sie waren vom Meer verschlungen! Große Thränen netzten die Augen des Herrn Cascabel, seiner Frau und seiner Kinder.
»Zurück!. Zurück!« schrie Herr Sergius.
Und indem man sich mit aller Kraft gegen die Räder des Wagens stemmte, gelang es, denselben von dem Spalt zu entfernen, der durch das Schwanken des Feldes immer weiter wurde. So schob man das Gefährt einige zwanzig Schritte zurück, aus dem Bereiche des Eisbruchs.
Aber die Lage war trotzdem sehr bedenklich. Was sollte man jetzt thun? Die Belle-Roulotte inmitten der Meerenge zurücklassen, um sie später, nachdem man Numana erreicht, mit einem Renntiergespann abholen zu kommen?. Es schien wirklich nichts anderes übrig zu bleiben. Plötzlich schrie Jean auf:
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