Ich quetsche mich weiter in Richtung Bar. Wenn ich auf den Tresen klettere, kann ich besser nach Bruno Ausschau halten. Leider ist hier gerade niemand, der freundlich fragt, ob man vielleicht einen Cappuccino möchte, oder, der Situation angemessener: einen Whisky. Das Personal hat sich offenbar rechtzeitig in Sicherheit gebracht, wohl ahnend, welche Meute sich hier versammeln würde. Vielleicht frage ich einen Bauern nach einem Glas Ziegenmilch, ich würde in diesem Moment alles für etwas Trinkbares geben. Beherzt schwinge ich meinen Popo auf den Tresen. Dabei rempele ich einen Mann an, und meine Tasche fällt mit lautem Getöse auf den Boden. Der Akku meines Handys fällt auch heraus, jetzt kann mich Bruno nicht mehr erreichen. Verzweifelt suche ich den Boden nach meinen Habseligkeiten ab. Mein Rock ist verschmiert, und einen Moment lang habe ich das Bedürfnis, ein paar Tränen zu verdrücken, so sehr bedauere ich mich.
Aufstand der Hirten
Bruno
An den Gepäckbändern tummeln sich Schafe, manche versuchen, sie zu erklimmen, manche blöken verängstigt. Unser Gepäckband kreist weiterhin leer vor sich hin. Nicht mal ansatzweise ein Koffer von gut hundert Passagieren, die um halb zwölf mit dem Air-One-Flug aus Rom gelandet sind. Deshalb beschließen wir um 12 Uhr 35 einmütig, zum Blitzangriff überzugehen. Der Erste, der aufbegehrt, ist ganz dem Beispiel eines verängstigten Schäfchens folgend auf das Gepäckband gesprungen, hat sich in die Ausgabeöffnung gestürzt und ist mit einer Plastiktüte auf dem Kopf wieder hervorgekommen. Ein Angestellter an der Gepäckausgabe wurde sogar von einem wütenden weiblichen Fluggast gebissen, als er sie darauf hinwies, dass er nicht für die Funktionstüchtigkeit des Bandes zuständig ist.
Ich muss an Jutta denken und hoffe, dass wenigstens sie ihr Gepäck bekommen hat. Ihr Flugzeug aus München sollte schon vor über einer Stunde landen, vielleicht hat man da noch pünktlich ausgegeben. Ich habe schon versucht, sie auf dem Handy zu erreichen, aber natürlich herrscht auch auf der anderen Seite der Glasscheibe ein solches Durcheinander, dass sie mich nicht hören kann. Ihr Telefon hat mehrmals geklingelt, aber sie geht nicht ran. Die verängstigten Schafe blöken und schließen sich mir an, in der Hoffnung, dass ich sie zu ihren Besitzern bringe. Nachdem ich endlich den Zoll passiert habe, stelle ich fest, dass es hier auch nicht besser aussieht. Trotz der Carabinieri und Polizisten in Schutzanzügen ist es einem Demonstrationszug von Hunderten Milchbauern gelungen, die gesamte Halle zu besetzen. Schafe grasen an den Ausgängen, wo es zu den Taxis und Bussen geht, oder laufen orientierungslos umher. Hier nach Jutta zu fahnden wäre, wie nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen zu suchen. Zwischen Spruchbändern und Sprechchören mit Slogans und höhnischen Devisen wie »1 EURO FÜR DEN LITER oder wir melken nicht mehr« schreie auch ich, so laut ich kann: »Juuttaaa! Juuttaaa!«
Die Schafe sind durstig. Ihre Besitzer haben Mühe, sie zusammenzuhalten. Einer von ihnen ruft seine Tiere und rennt ihnen hinterher. Aber die fliehen verstört und verirren sich in die umliegenden Toiletten. Ich beschließe, auf Zeit zu spielen, dränge mich zum Leihwagencounter zwischen einem Grüppchen Hirten durch, die sich erregt unterhalten: Mann, sind die wütend! Jutta wartet sicher schon irgendwo auf mich, und früher oder später werden wir uns in die Arme schließen. Der Verleih, bei dem ich den Wagen abholen muss, hat rund um die Uhr geöffnet, und da ich bereits online reserviert habe, muss ich nur meinen Voucher vorzeigen, das Auto abholen, meine Liebste einladen und dann auf nach Gesturi! Das mit den Koffern ist doch kein Drama. Wenn wir sie jetzt nicht kriegen, lassen wir sie uns eben direkt an Maurizios Adresse schicken. Heute Abend oder spätestens morgen früh wird sich alles wieder einrenken.
Die Angestellte am Schalter des Autovermieters hat gerade einen Nervenzusammenbruch. Auch sie können vorübergehend nicht weiterarbeiten, weil das Parkhaus gegenüber dem Eingang blockiert ist.
»Mein Gott, sind dort etwa auch Schafe?«, rufe ich entsetzt.
»Nein, Signore, aber da sind jetzt die Viehzüchter. Sie haben mit ihren Traktoren alle Ausfahrten besetzt, und die Autos kommen nicht raus. Hier sind jedenfalls Ihre Schlüssel. Vielleicht ziehen die ja in einer halben Stunde wieder ab.«
Also ist auch das mehrstöckige Parkhaus zum Spielball des Konflikts geworden. Die endlose Reihe von Lastwagen reicht bis an die Sperren, ebenso lang ist die Menschenschlange. Alle wollen zu ihren Autos. Ich schließe mich an. Und komme nicht weiter. Gerade hat man eine Kuh mit einer Glocke um den Hals von einem Wagen abgeladen. Der Viehhalter hat sie absichtlich vor den Haupteingang zum Parkplatz gestellt. Die Kuh heißt Ercolina und kommt aus Oristano. Sie steht symbolisch für alle Viehzüchter. Wie auf Kommando holen jetzt alle Fähnchen heraus, auf denen ihre Lieblingskuh abgebildet ist, und schwenken sie.
»WIR BLEIBEN HIER«, skandiert einer. »Sollen sie uns doch anzeigen, aber wir bewegen uns keinen Zentimeter von hier weg!«
Na, das war’s dann wohl mit dem Leihwagen! Wenn man dem Mann Glauben schenken darf, haben die Bauern vor, den Parkplatz komplett zu blockieren. Sie protestieren, weil die Regierung ihnen verbietet, Milch zu produzieren, und stattdessen Milchpulver aus dem Ausland importiert. Sie sind mit ihren Traktoren aus Oristano, Cagliari, Alghero gekommen und aus vielen anderen Teilen der Insel. Sie haben ihre Frauen und Kinder mitgebracht – und Miss Ercolina. Ja, eine echte Miss! Denn Ercolina hat vor kurzem den traditionellen Wettbewerb auf der hiesigen Viehmesse gewonnen. Eine friesische Schwarzbunte, erst sechs Jahre alt, die bis zu sechzig Liter Milch am Tag gibt. Aus der Nähe betrachtet sieht sie ziemlich rührend aus.
Ich bin erschöpft, die Situation grenzt so ans Absurde, dass ich am liebsten weinen würde. Ercolina steht da vor mir mit ihren großen Samtaugen und einem feuchten Maul. Aber wo ist bloß Jutta?
Der Mann mit dem Traktor
Jutta
Als ich mit zwanzig Jahren auf die Schauspielschule kam, stellte meine Phonetiklehrerin fest, dass ich mit einem kraftvollen Organ ausgestattet bin und es für mich nie schwierig werden dürfte, große Staatstheater zu füllen. Ein Problem jedoch, sagte sie, könne meine starke Persönlichkeit werden. Ich zeige zu viele Emotionen, wo jedoch bliebe der Kopf? Sie riet mir daher, eine Atemtherapeutin aus der renommierten Meh-Schule aufzusuchen, an der unter anderem C. G. Jung gelehrt hat. Sie sollte mir helfen, Bauch und Geist in Einklang zu bringen. Sechs Jahre habe ich diese wunderbare Atemtherapie gelernt. Vor jeder Premiere, wenn mich mein Lampenfieber zu zerreißen drohte, dachte ich an den Kernsatz, den mir meine Ida Hengst eingetrichtert hat: »Wenn du aufgeregt bist und nicht mehr weiterweißt, setz dich auf deinen Hintern und atme ein.« So, und genau das mache ich jetzt auch! Ich atme tief ein, schließe meine Augen, und nach ein paar Atemzügen spüre ich, wie meine Mundwinkel nach oben wandern und sich eine zarte, noch im Anfangsstadium befindliche Heiterkeit einstellt. Mein Körper wird leicht.
»Ist das Ihr Akku?« Ich öffne meine Augen und sehe in das strahlende Gesicht von »Rastazöpfchen«, meinem Engel.
»Ja, danke, großartig, ich hab schon den ganzen Boden danach abgesucht.«
»Ich glaube, der ist in dem Tumult in die Ecke gekickt worden. Wollen Sie auch Ihren zweiten Schuh wiederhaben?«
Ich könnte sie knutschen.
»Danke, danke«, gebe ich liebevoll zurück. Wir müssen beide lachen.
»Was machen wir jetzt bloß hier? Wartest du auch auf deinen Koffer?«, frage ich sie. Ja, ihr Rucksack sei anscheinend noch im Flieger, und so viel sie vorhin verstanden hätte, käme wohl heute bei dem Streik kein einziges Gepäckstück mehr aufs Rollband, denn die Bauern hätten auch die Gepäckhalle besetzt. Ich mache derweil mein Handy wieder funktionstüchtig. Eigentlich will ich das gar nicht. Warum muss man immer und überall erreichbar sein?, denkt mein Dinosaurierhirn. Ich frage das Mädchen, was es auf der Insel macht und warum es so gut Italienisch spricht? Ich kann es nach acht Jahren deutsch-italienischem Bündnis nicht halb so gut! Sie erzählt mir, dass sie Archäologie in Perugia studiert und sich hier Ausgrabungen ansehen will. Freunde hätten ihr ein Sommerhäuschen angeboten, und es gebe einen Bus dorthin.
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