Nun kamen einige schreckliche Minuten. Zwei Eingeborne saßen laut sprechend nahe der Wasserfläche auf Pfählen, zwischen welchen die Strömung das Boot hindurchtreiben mußte, dessen Richtung bei diesem schmalen Wege in keiner Weise verändert werden durfte. Sollten sie dasselbe nicht erkennen und war nicht auf ihren Weckruf die Zusammenströmung aller Bewohner dieser Ansiedlung zu befürchten?
Noch war eine Strecke von etwa hundert Schritt Länge zurückzulegen, als Dick Sand hörte, wie sich die Eingebornen einige lebhaftere Worte zuriefen. Der Eine zeigte dem Anderen den herangleitenden Gras-und Reisighaufen, der die Lianen-Netze, welche sie eben auszulegen beschäftigt waren, zu zerreißen drohte.
Dann hoben sie dieselben und riefen laut nach Anderen um Unterstützung.
Bald kletterten fünf oder sechs andere Neger längs der Grundpfähle herab und setzten sich unter wildem Geschrei, von dem man sich kaum eine Vorstellung machen kann, auf die Querbalken, welche die Pfeiler verbanden.
In der Pirogue dagegen herrschte Todtenstille, die höchstens durch einige mit gedämpfter Stimme ertheilte Befehle Dick Sand’s unterbrochen wurde; nichts regte sich, außer etwa Herkules’ rechter Arm, der den Bootsriemen regierte; manchmal knurrte Dingo leise, doch Jack hielt ihm mit den kleinen Händchen die Kinnladen zusammen; draußen murmelte das strömende Wasser, das sich an den Grundpfählen brach; darüber aber ertönte das thierische Gebrüll der Kannibalen.
Hastig holten die Eingebornen ihre Netze heraus. Gelang ihnen das rechtzeitig, so war Aussicht vorhanden, daß das Boot hindurchkommen werde; im anderen Falle mußte es sich in jenen fangen und dann drohte ein gewisser Untergang Allen, die es mit sich führte.
Binnen einer halben Minute schon schwankte das Boot zwischen die Pfähle hinein. Unerwartet glücklicher Weise gelang es der äußersten Anstrengung jener Wilden, die Netze vollends emporzuziehen.
Im Vorüberstreifen aber geschah, was Dick Sand befürchtet hatte – die rechte Seite des Fahrzeuges wurde durch Losreißung einigen Laubwerkes stellenweise bloßgelegt.
Einer der Eingebornen stieß einen Schrei aus. Hatte er zu erkennen vermocht, was diese Laubhütte verdeckte, und wollte er die Anderen darauf aufmerksam machen? Wahrscheinlich.
Schon waren Dick Sand und die Seinen aber ein gutes Stück weg und in wenig Augenblicken trug sie der Fluß, der hier mehr eine Stromschnelle bildete, so weit, daß sie jenes Pfahldorf ganz aus dem Gesichte verloren.
»Nach dem linken Ufer! commandirte Dick Sand aus Vorsorge. Das Wasser ist dort wieder schiffbar!
– Beidrehen nach links!« wiederholte Herkules, indem er mit dem Bootsriemen kräftig einlenkte.
Dick Sand nahm neben ihm Platz und lugte scharf nach der vom Monde hell erleuchteten Wasserfläche hinaus, doch konnte er nichts Verdächtiges wahrnehmen. Keine Pirogue erschien zu ihrer Verfolgung. Vielleicht besaßen die Wilden eine solche nicht, und auch bei Anbruch des Tages zeigte sich kein Eingeborner weder am Flusse noch an dessen Ufern. Um jedoch ganz sicher zu gehen, hielt sich das Boot beständig nahe dem linken Ufer.
Während der nächsten vier Tage, vom 11. bis 14. Juli, drängte sich Mrs. Weldon und ihren Gefährten die Beobachtung auf, daß sich der allgemeine Charakter des Landes auffallend verändert hatte. Hier befand man sich nicht mehr in einem öden Lande, sondern mehr in einer eigentlichen Wüste, vergleichbar der von Kalahari, welche Livingstone bei seiner ersten Reise untersuchte. Der dürre Erdboden erinnerte in keiner Weise mehr an die fruchtbaren Landschaften seines höheren Hinterlandes.
Nur der scheinbar endlose Fluß, der eigentlich den Namen eines Stromes verdiente, da er unmittelbar in den Atlantischen Ocean zu münden schien, setzte seinen Lauf noch fort.
Die Beschaffung der Nahrung machte in diesem unfruchtbaren Lande besondere Schwierigkeiten. Von den früheren Vorräthen war nichts mehr übrig. Der Fischfang lieferte nur einen geringen, die Jagd fast gar keinen Ertrag. Elennthiere, Antilopen, Pokus und andere Thiere hätten in dieser Wilstenei kein Futter gefunden, und mit ihnen waren gleichzeitig auch die Raubthiere verschwunden.
Während der Nacht ließ sich jetzt niemals mehr das gewohnte Brüllen hören. Nur das Concert der Frösche unterbrach ihre Stille, ein Concert, das Cameron mit dem Geräusch vergleicht, das etwa bei gleichzeitigem Kalfatern von Schiffen, Festhämmern von Nieten und Bohren von Metallplatten eines Schiffbodens entstände.
An beiden Ufern erschien die Umgegend flach und baumlos bis zu den entfernten Hügeln, die sie im Osten und Westen begrenzten. Nur Euphorbien gediehen hier noch in Menge, doch keine von den Arten, welche das Cassave-oder Maniocmehl liefern, sondern von jenen, aus denen man nur ein als Nahrungsmittel untaugliches Oel gewinnt.
Auf jeden Fall mußte indeß für die Ernährung der kleinen Gesellschaft Sorge getragen werden. Dick Sand wußte keinen Rath mehr, als ihn Herkules recht zur gelegenen Zeit daran erinnerte, daß die Eingebornen häufig die zarten Sprossen der Farren und das Mark der Papyrusstengel verzehren. Er selbst war, während er Ibn Hamis’ Karawane durch die Wälder folgte, mehr als einmal auf dieses Auskunftsmittel beschränkt gewesen, um seinen Hunger zu stillen. Zum Glück wucherten Farren und Papyrusstauden längs der Ufergelände und fand vorzüglich das Mark der letzteren seines angenehm süßen Saftes wegen bei Allen – beim kleinen Jack natürlich ganz besonders – den ungetheiltesten Beifall.
Immerhin bot dasselbe nur eine unzulängliche Nahrung, doch sollte man sich am nächsten Tage, Dank Vetter Benedict, dafür entschädigen.
Seit der Auffindung des Hexapodus Benedictus , der seinen Namen verewigen sollte, hatte der würdige Gelehrte die früheren kleinen Streifzüge wieder begonnen. Nachdem das Insect sicher verwahrt, d.h. am Hute sorgfältig angespießt war, ging Vetter Benedict, wenn das Boot anlegte, wieder »auf die Suche«. Da, als er genannten Tages durch das hohe Gras watete, flog ein Vogel auf, dessen Gezwitscher seine Aufmerksamkeit erregte.
Schon wollte Dick Sand auf denselben feuern, als Vetter Benedict ausrief:
»Nicht schießen, Dick, nicht schießen! Ein Vogel für Fünf wäre doch zu wenig!
– Für Jack reicht er doch, antwortete Dick Sand, indem er nochmals auf den Vogel anlegte, der gar nicht an’s Entfliehen dachte.
– Nein, nein! wiederholte Vetter Benedict. Schießt nicht! Das ist ein Wegweiser; durch ihn werden wir Honig in Ueberfluß finden!«
Dick Sand senkte das Gewehr, da ihm auch nur wenige Pfunde Honig werthvoller erschienen als ein Vogel, und bereitete sich, nebst Vetter Benedict, dem Wegweiser zu folgen, der, von Zeit zu Zeit fortfliegend und anhaltend, sie einzuladen schien, ihn zu begleiten.
Sie hatten nicht weit zu gehen, denn schon nach wenig Minuten sahen sie, von Euphorbien versteckt und von Millionen Bienen umsummt, einige alte Baumstümpfe vor sich.
Vetter Benedict hätte diesen fleißigen Hymenopteren »die Frucht ihrer Arbeit« – wie er sich ausdrückte – am liebsten gar nicht geraubt. Dick Sand war freilich anderer Meinung. Er räucherte die Bienen durch Entzündung trockener Kräuter aus und bemächtigte sich einer gehörigen Menge vorzüglichen Honigs. Die Wachszellen wurden dem Wegweiser als ihm gebührender Beuteantheil überlassen, dann kehrten Beide eiligst nach ihrer schwimmenden Wohnung zurück.
Der Honig wurde mit Freuden empfangen; bei seiner für fünf Personen aber immerhin nicht übermäßigen Menge hätten doch Alle bald grausamen Hunger leiden müssen, wenn die Pirogue am 12. Juli nicht in einer kleinen Bucht gehalten hätte, neben der es von Heuschrecken geradezu wimmelte. Myriadenweise bedeckten sie in doppelter und dreifacher Lage den Boden wie die Gebüsche. Da nun Vetter Benedict schon früher mitgetheilt hatte, daß die Eingebornen sich nicht selten allein von diesen Orthopteren sättigen – was auch in der That der Fall ist – so griff man herzhaft zu. Wohl zehnmal hätte man das Boot mit Heuschrecken beladen können, die, bei mäßigem Feuer geröstet, auch minder hungrigen Leuten noch gut gemundet hätten. Vetter Benedict seinerseits verzehrte eine erstaunliche Menge; er seufzte zwar dabei – aber er aß sie doch.
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