J. Kastner - Flußpiraten

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Das Jahr des Herrn 1863 ist eine düstere, hoffnungslose Zeit in Deutschland. Das einfache Volk ist verarmt. Wer Arbeit hat, schuftet für Groschen. Menschen sterben an Hunger und Epidemien.
In dieser Zeit ist »Amerika« ein Wort der Hoffnung und Sehnsucht - ein Land, wo jeder sein Glück machen und zu Wohlstand kommen kann. Ein magisches Wort auch für den jungen Handwerksgesellen Jacob Adler, der zu Unrecht des Mordversuchs beschuldigt wird und aus Deutschland fliehen muss.
Doch sein Leben in Amerika wird härter und gefahrvoller sein, als er es sich in seinen ärgsten Träumen vorzustellen vermag. Ein Abenteuer wartet auf Jacob
Adler, wie es kaum ein zweiter je erlebt hat...

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In der Nacht vom zweiten auf den dritten Juni des Jahres 1863 wurde Klein-Deutschland, von der englischsprechenden Bevölkerung New Yorks auch Dutchtown genannt, von einer ungewohnten Unruhe ergriffen. Schuld daran waren die schweren Wagen, die aus allen Himmelsrichtungen in das Deutschenviertel rollten. Die Fahrer, welche die massigen, kompakten Zugpferde durch die Straßen lenkten, trugen die dunkle Uniform der Stadtpolizei. Dieselbe Uniform trugen auch die Insassen, die den Wagen entsprangen, sobald sie ihre an der Bowery gelegenen Ziele erreicht hatten, wo ein Etablissement neben dem anderen alle Vergnügungen und Ausschweifungen bot, die menschlicher Geist sich vorzustellen vermochte. Laut knallten die Stiefel der Uniformierten über das Pflaster, pochten ihre hölzernen Stöcke gegen die Türen, erscholl das Geschrei von Männern und Frauen, wenn sie abgeführt und in die Wagen gesperrt wurden.

Einer dieser Wagen, dessen Ziel in der verrufenen Christie Street lag, mußte an der Ecke Bowery und Houston Street einem unerwartet aus einer Einfahrt hervorpreschenden Brauereiwagen ausweichen, schrammte dabei an der Mauer entlang und verlor ein Rad. Der Fahrer brachte die Pferde mit lauten Rufen zum Stehen. Fluchende Polizisten sprangen aus dem Wagen auf die Straße, hoben ihr Fahrzeug auf Kommando ihres Sergeants an und befestigten das Rad wieder auf der Achse. Der Sergeant scheuchte seine Männer zurück in den Wagen, dessen Tür noch nicht ganz geschlossen war, als der Fahrer auch schon die Bremse löste und die Pferde antrieb. Der unfreiwillige Aufenthalt hatte einige Minuten gedauert, die einem Mann in der Christie Street, der gerade über seinem Pokerblatt brütete, einen wertvollen Vorsprung sichern konnten.

Vier Könige lächelten den schlanken Mittdreißiger mit dem dunklen, leicht gewellten und sorgfältig gescheitelten Haar an. Aber das herbe und zugleich gutaussehende Gesicht blieb unbewegt, das klassische Pokerface. Innerlich jedoch jubelte Max Quidor über sein Blatt. Damit konnte er nur gewinnen! Ausgerechnet Könige! Das war für ihn wie ein Symbol, der Wink einer höheren Macht, alles auf seine Karten zu setzen. Denn er selbst fühlte sich als König über diesen Bezirk von Dutchtown.

Quidors Blick kreuzte sich mit dem von Lester Wiggfield, der als einziger in der Runde mitgegangen war. Alle anderen waren aus der Partie ausgestiegen, als Quidor immer wieder den Einsatz erhöhte, ohne auch nur eine einzige Karte zu kaufen. Das konnte nur zweierlei bedeuten. Entweder war der Inhaber des Golden Atlantic, in dem sich die Pokerrunde zusammengefunden hatte, ein begnadeter Bluffer, oder er hatte ein konkurrenzloses Blatt. Wie sonst hätte er es wagen können, den Einsatz auf zehntausend Dollar hochzuschrauben? Das Risiko, daß Quidor kein Bluffer war, war allen Mitspielern zu hoch gewesen, nur Wiggfield nicht. Entweder besaß er großes Vertrauen in sein eigenes Blatt oder in seine eigenen Fähigkeiten als Bluffer.

Sosehr Quidor auch in den asketischen Zügen des hageren Yankees nach einem Hinweis auf dessen Blatt suchte, er tat es vergeblich. Die wäßrigen Augen über der krummen Nase blickten den Inhaber des Golden Atlantic so unschuldig an, als sähen sie die Welt in dieser Minute zum erstenmal. Wäre es anders gewesen, wäre der deutschstämmige Geschäftsmann enttäuscht gewesen. Lester Wiggfield genoß drüben auf der anderen Seite der Bowery einen ähnlichen Ruf wie Quidor in Klein-Deutschland. Wiggfields Etablissement Royal Flush bemühte sich seit langem, dem Golden Atlantic den Rang abzulaufen. Und jeder der beiden Männer stand in dem Ruf, zu den besten fünf Pokerspielern New Yorks zu gehören.

Wiggfield machte diesem Ruf alle Ehre, als er mit unbewegtem Gesicht fünf der großen, viereckigen Chips in die Mitte schob und zwischen zwei Zügen aus seiner teuren Henry-Clay-Zigarre verkündete: »Ich erhöhe um fünftausend.«

Bluffte er? Oder war er von seinem Blatt so überzeugt, wie er sich gab? Quidor konnte es beim besten Willen nicht sagen. Aber das erhöhte nur den Reiz dieses Spiels, von dem er jeden Zug genießen wollte. Lange hatte es gedauert, bis er Wiggfield ins Golden Atlantic gelockt hatte. Der Yankee war nur gegen das Versprechen gekommen, daß Quidor demnächst im Royal Flush spielen würde. Denn das Zusammentreffen der beiden berühmten Gambler war eine große Attraktion, die eine Menge Gäste anlockte und den Umsatz förderte. Quidor beglückwünschte sich, daß seine erste Pokerpartie mit Wiggfield im Golden Atlantic stattfand, denn gerade dieses erste Zusammentreffen der beiden hatte besonders viele Schaulustige angelockt.

Im großen Spielsaal konnte man kaum noch ein Bein auf die Erde bekommen. Als sich das Spiel an Quidors Tisch zu einem Duell zwischen ihm und Wiggfield entwickelt hatte, war an den anderen Tischen nach und nach das Spielen eingestellt worden. Die Karten ruhten in ihren Behältern, die Roulettekugel sprang nicht mehr über die schwarzen und roten Felder, und die Würfel hatten noch nie so wenig Beachtung gefunden wie in diesen Minuten. Alles drängte sich um den Pokertisch in der Mitte des großen Saales, wo sich bald zeigen würde, welcher der beiden berühmten Gambler und Spielhallenbesitzer sich an diesem Abend in seinem Ruhm würde sonnen können. Nur eine Absperrkette, die Quidors Angestellte um den Tisch bildeten, verhinderte, daß die Menge ihn überlief wie die Flut den Strand von Staten Island.

Quidor selbst wurde von seinen beiden persönlichen Leibwächtern abgeschirmt, dem hellblonden Henry und dem dunkelhaarigen Tom, dem eine kreuzförmige Stirnnarbe ein verwegenes Aussehen verlieh. In ihren dunklen Anzügen und mit den schweren Revolvern an den Hüften wirkten sie wie Todesengel und schreckten jeden davon ab, ihrem Boß zu nahe zu treten.

Quidor hatte gerade ebenfalls fünf der großen Chips in die Mitte des Tisches geschoben, wo zusammen mit den Einsätzen der inzwischen ausgestiegenen Spieler Elfenbeinchips im Wert von ungefähr 35.000 Dollar aufgehäuft waren, als eine unerwartete Unruhe die Menschen im Spielsaal ergriff. Sie wirkten wie eine der riesigen Büffelherden auf den westlichen Prärien, die von irgendeinem Punkt aus in Bewegung geriet, ohne daß die zottigen Tiere selbst den Grund kannten. Sogar die von den Ausdünstungen der vielen Menschen, vom Tabaksqualm und vom Alkoholdunst zum Schneiden dick gewordene Luft schien plötzlich in Bewegung zu geraten, als sich etwas mit ungeheurer Energie eine Gasse durch das Meer aus Leibern bahnte. So mußte es ausgesehen haben, als sich das Rote Meer vor Moses teilte.

Aber nicht der biblische Führer der Israeliten erschien in dieser Gasse, die sich sofort wieder hinter dem Unruhestifter schloß, sondern eine auffallend schöne Frau in einem tiefausgeschnittenen, weinroten Kleid. Ein Raunen ging durch den Saal, als ihr Name von einem zum anderen geflüstert wurde. Die nicht mehr ganz junge Schönheit mit dem dunklen Lockenhaar war Jeanette Latour, die als Quidors Favoritin galt und eines der Häuser für ihn führte, in denen junge Frauen ihre Haut zu Markte trugen.

Sie wirkte abgehetzt und hatte noch nicht einmal eine Jacke um ihre fast bloßen Schultern gelegt. Der Saum ihres Kleides war befleckt vom Schmutz und Unrat, der die Straßen bedeckte. Die Französin strahlte in ihrer Hast und ihrer Zielstrebigkeit etwas aus, das keinen Widerspruch zu dulden schien. Das spürten die Menschen im Golden Atlantic und machten ihr trotz der drangvollen Enge Platz.

Der Besitzer des Etablissements war über das unerwartete Auftauchen seiner Favoritin nicht erfreut. Seine Augen wurden zu Schlitzen, hinter denen es gefährlich funkelte, als er ihr entgegensah. Quidor war ungehalten über die Störung. Im Augenblick konnte er sich nicht vorstellen, daß etwas auf der Welt wichtiger sein könnte als die Pokerpartie zwischen ihm und Lester Wiggfield.

Es war allgemein bekannt, daß es Quidor mit der Treue hielt wie ein Angler mit den Fischen. Der begehrenswerteste ist immer der Fisch, der gerade an der Angel hängt. Mit dem Geschäftsmann und den Frauen war es ähnlich. Zwar kehrte er immer wieder in Jeanette Latours Arme zurück, aber die hübschesten Neuzugänge seiner Bordelle weihte er regelmäßig persönlich in ihre Arbeit ein. Für die Französin, die ihn abgöttisch liebte, war das jedesmal wie ein Messerstich ins Herz. Deshalb hatte sie auch vor einigen Tagen der jungen Deutschen Irene Sommer, die von Quidor gefangengehalten worden war, zur Flucht verholfen. Jeanette hatte ihre Beteiligung daran abgestritten, aber ihr Geliebter hatte ihr nicht geglaubt und sie so zusammengeschlagen, wie er es noch nie zuvor getan hatte; erst nach zwei Tagen hatte sie sich vom Bett erheben können. Noch immer war er nicht gut auf sie zu sprechen. Ein weiterer Grund, weshalb er ihr jetzt so ablehnend entgegensah.

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