Sein Bruder rückte näher heran, und sein Gesicht wirkte unter der hin- und herschwankenden Lampe plötzlich zerfurcht und müde.
«Das ist lange her. Ja, ich kannte viele solcher Ankerplätze.»
Bolitho ging um den Tisch herum und streifte dabei die Spinde und die hin- und herschwingende Hängematte, ohne es zu bemerken.
«Du kennst natürlich Lequiller und weißt auch, was wir hier vorhaben. Ich glaube, daß er seine beschädigten Schiffe ausbessern wird, bevor er…»
Er brach ab, als er sich bewußt wurde, daß sein Bruder ihn nachdenklich betrachtete.
«Ich habe allerlei gehört. Daß Lequiller das Schatzschiff gekapert hat und du die Absicht hast, ihn zu verfolgen und abzufangen. «Er zuckte die Achseln.»Nachrichten verbreiten sich schnell in den unteren Decks, wie du weißt.»
«Als du in Las Mercedes warst, hast du da gehört oder gesehen, was dort vor sich ging?»
«Nicht viel. Wir sahen, daß die Soldaten exerzierten, und als die französischen Schiffe in die Bucht einliefen, gab es große Aufregung. Ich wußte gleich, daß uns das Unannehmlichkeiten bringen würde.»
Bolitho konnte seine Bitterkeit nicht unterdrücken. »Uns? Das bedeutet wohl eine Sinnesänderung bei dir?»
Sein Bruder sah ihn ernst an.»Möglicherweise. Denn schon bei meinem nur kurzen Aufenthalt auf deinem Schiff habe ich dich wieder achten gelernt. So wie damals in St. Clar, als die Strafgefangenen dir zujubelten. «Er lächelte etwas gequält.»Zwischen einem Strafgefangenen und einem Seemann auf einem Schiff des Königs besteht nur ein geringer Unterschied, und ich habe gehört, was sie von dir denken. «Er schaute auf die Karte.»Sie würden dir überallhin folgen. Frag mich nicht, warum. Und erwarte auch nicht, daß einer das ausspricht. Es ist eben etwas, das du an dir hast und auf sie ausstrahlst. «Er zuckte abermals mit der Schulter.»Aber macht nichts. Ich sage das nur, weil ich meine, du solltest das nicht beiseite schieben, nur um den guten Namen deines Kommodore zu retten.»
Bolitho antwortete scharf:»Ich habe dich nicht hergerufen, um deine Meinung über meine Motive zu hören. «Er klopfte auf die Karte.»Also?»
«Hier ist ein geeigneter Platz. «Hughs Finger wies auf eine Stelle der Karte.»Die Pascua-Inseln, etwa fünfzig Meilen nordwestlich von St. Kruis. «Seine Augen bewiesen fachliches Interesse, als er sich über die Karte beugte.»Zwei Inseln, die durch eine Kette kleiner und kleinster Eilande und ausgedehnter Riffe miteinander verbunden sind. Ein gefährlicher Ankerplatz, eigentlich nur eine letzte Zuflucht. «Er nickte nachdenklich.»Der Hauptvorteil ist, daß es zwischen den Riffen Durchlässe gibt. Mit deinem kleinen Geschwader könntest du gar nicht alle überwachen. «Sein zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.»Ich selbst bin da Rodneys Fregatten mehrmals entwischst.»
Bolitho fragte ruhig:»Was würdest du an meiner Stelle tun?»
Sein Bruder sah ihn lange an, und sein Ausdruck wechselte dabei von Überraschung zu Mißtrauen. Schließlich antwortete er:»Eine Fregatte würde zwischen den Riffen durchkommen. Ein Überraschungsangriff auf diesem Wege würde die vor Anker liegenden Schiffe sicherlich veranlassen, durch die Hauptpassage auszulaufen; davor könntest dann du stehen und sie in Empfang nehmen.»
Bolitho betrachtete ihn ernst.»Nur ein sehr erfahrener Mann wäre imstande, ein Schiff durch die Riffe zu steuern, nicht wahr? Jemand, der die genaue Lage aller unter Wasser liegenden Hindernisse kennt.»
Hugh beobachtete ihn verständnisvoll.»So ist es. Ohne solch einen Mann wäre es Wahnsinn. Als ich die Durchfahrt das erste Mal benutzte, hatte ich einen alten Mulatten als Lotsen. Er kannte sich sehr gut aus und hat dann mir beigebracht, was er selber als Fischer in vielen Jahren mühsam gelernt hatte.»
Bolitho richtete sich straff auf.»Willst du's tun?«E sah das Mißtrauen in den Augen seines Bruders weichen und fügte hinzu:»Ich weiß, das Risiko ist groß. Der Kommandant unserer einzigen
Fregatte ist Charles Farquhar. Er könnte sich an dich als seinen alten Gegner, der ihn einst gefangennahm, erinnern.»
«Ich erinnere mich noch gut an ihn: ein frecher junger Laffe.»
«Aber wenn alles klappt, könnte es dir für eine spätere Begnadigung sehr viel nützen. Es ist die letzte Chance für dich.»
Sein Bruder zeigte nur ein resigniertes Lächeln.»Es ist genau, wie die Leute sagen: Du denkst nie zuerst an dich selber. «Er legte eine Hand auf den Tisch.»Ich habe keinen Augenblick daran gedacht, meine eigene Haut zu retten. Kommt es dir denn nicht in den Sinn, daß es schlecht für dich stünde, wenn Farquhar oder sonst wer über mich Bescheid wüßte? Du hast einen Flüchtling versteckt, dich mit einem Hochverräter verbündet. Sie würden dich kreuzigen.»
Als Bolitho nicht antwortete, setzte Hugh eindringlich hinzu:»Denk an dich selber! Und hör' auf, dir Sorgen zu machen, über deinen Kommodore, über mich und über den ganzen Rest. Sorge dich wenigstens dieses eine Mal um dich selber!»
Bolitho schaute beiseite.»Es ist also abgemacht. Wenn wir in St. Kruis ankommen, werde ich den Kommodore informieren. Mag sein, daß wir auf dem von dir genannten Ankerplatz nichts finden. Aber wir werden sehen.»
Sein Bruder ging zur Tür.»Es gab bisher nur einen einzigen Mann, der mir damals in der Karibik überlegen war. So hoffe ich, daß dir das Glück auch ein zweites Mal zur Seite steht.»
«Vielen Dank!«Aber als Bolitho den Kopf nach Hugh wandte, war der Kartenraum leer.
XIV Für die achtern die Ehre…
Als sein Boot an den Holzpfählen der Landungsbrücke festgemacht hatte, kletterte Bolitho vom Hecksitz hinauf und warf zunächst einen Blick zurück auf die Bucht. Erst vor zwei Stunden hatte Pelham-Martins Geschwader hier geankert, doch in dieser kurzen Zeit hatte sich das Wetter bereits erheblich verändert. Der Himmel war mit einem düsteren Schleier überzogen, der das nachmittägliche Sonnenlicht zu einem bösen Funkeln verzerrte und die unregelmäßig laufenden Wellenkämme bräunlich verfärbte. Als er seine Augen mit der Hand beschattete und die Schiffe musterte, bemerkte er, daß sie unruhig an ihren Ankertrossen zerrten, als hätten sie Angst vor der Nähe des Ufers.
Boote fuhren geschäftig zu den Schiffen hinaus und wieder zurück zu den an Land wartenden Seeleuten, die frisch gefüllte Wasserfässer und schnell eingekaufte Früchte in Körben zu ihnen hinunterreichten und sich dann wieder landeinwärts entfernten, um weitere Ladung zu beschaffen.
Inch und Gossett kletterten zu Bolitho hoch und standen in den vom Wind aufgewirbelten Staubwolken, die ihre Gesichter und Anzüge in Sekundenschnelle mit einer grauen Schicht bedeckten.
Der Master sagte mit rauher Stimme:»Der Wind kommt immer noch aus Nordost und nimmt weiter zu, Sir. «Er schüttelte den Kopf.»Ich werde mich wohler fühlen, wenn wir erst wieder in See sind.»
Bolitho folgte seinem Blick und sah, wie sich die Wellen an der schützenden Kette von Riffen östlich der Bucht brachen.»Ich stimme Ihnen zu.»
Er drehte sich um und marschierte über die staubige Straße in Richtung des undeutlich an ihrem Ende sichtbaren Gouverneurssitzes. Er ging schnell, obwohl er sich bewußt war, daß die anderen Mühe hatten, ihm zu folgen; die Dringlichkeit seiner Sache trieb ihn voran. Vierundzwanzig Stunden hatten die Schiffe trotz Einsatzes sämtlicher Segel für die Rückfahrt nach St. Kruis gebraucht, und während er fiebernd auf die endgültige Entscheidung des Kommodore gelauert hatte, war Pelham-Martin, nur von Kapitän Mulder von der Telamon begleitet, an Land gegangen, um sich mit de Block zu besprechen.
Während des Ankerns der Hyperion hatte Bolitho bemerkt, daß ihre vermißte Korvette schon unterhalb der Landzunge vor Anker lag. Als ihr Kommandant keinen Erfolg bei seiner Suche nach der Spartan gehabt hatte, traf er wohl die einzig mögliche Entscheidung, nach St. Kruis zurückzukehren. Aber inzwischen war einige Zeit verflossen, Zeit, die man hätte nutzen können, die Korvette eilends loszuschicken, um andere, stärkere Kräfte zu alarmieren und von Lequillers möglichen Absichten zu unterrichten.
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