«Der Wind räumt«, rief Jay, der zweite Gehilfe.
«Geht höher ran. Setzt die Marssegel und dann ab mit Vollzeug.»
Unter Deck hörte man Scherben klirren. Jemand erbrach sich.
«Den kleinen Affen bringe ich noch mal um«, murmelte Tyacke.
«Was halten Sie von Bolitho?«fragte Simcox, um ihn abzulenken.
Der Kommandant hielt sich fest und beugte sich vor, als eine See über Deck rauschte. In dem schäumenden, gurgelnden Wasser standen seine halbnackten Männer und grinsten einander zu. Niemand von denen würde über Bord gehen.
«Ein guter Mann, ganz bestimmt. «Tyacke erinnerte sich an die Hurrarufe, als Bolithos Schiff in die Schlacht eingegriffen hatte.»Ich kannte viele, die unter ihm gedient haben. In Dover gab's noch einen alten Mann, der unter Bolithos Vater kämpfte, als der seinen Arm verlor. In Dover war ich zu Hause, und da ist auch dieser Schoner gebaut.»
Simcox musterte das scharfe Profil seines Kommandanten. Ein Mädchen, das den Leutnant nur von dieser Seite sah, hätte sich leicht in ihn verlieben können.
«Erzählen Sie dem Admiral von diesem alten Mann?»
Tyacke wischte sich Wasser von Gesicht und Hals.»Wie denn? Er ist doch Admiral!»
Die Miranda jagte unter vollem Tuch durchs Wasser, daß der Schatten ihrer Segel wie eine riesige Flosse über die Wellen flog. Trotzdem lag sie leicht auf dem Ruder. Sie war als Paketboot in Dover gebaut worden, aber schon nach den ersten Fahrten von der Royal Navy requiriert worden. Siebzehn Jahr später segelte sie noch immer unter der Kriegsflagge, ein sehr lebendiges Schiff, das hoch an den Wind ging wegen seines einfachen Segelrisses und seines tiefen Kiels. Er verhinderte, daß sie zuviel Abdrift machte wie manche größeren Schiffe. Mit ihren vier Vierpfündern und zwei Karronaden war sie als Kurier gebaut, nicht für Gefechte. Eine einzige Breitseite von einer Fregatte hätte sie in ein Wrack verwandelt.
Zwischen den Decks hing der kräftige Duft nach Rum und Tabak und der fette Geruch des Mittagessens. Als sich die Wache um den Messetisch versammelte, saßen Simcox und Tyacke in der Kajüte. Dieser Raum war so niedrig, daß sich die beiden großen Männer darin nur gebückt bewegen konnten.
Der Midshipman saß ihnen beschämt und ängstlich am anderen Ende gegenüber. Er tat Simcox leid. Schon der Gedanke an Essen bei diesem Seegang mußte seinen Magen aus dem Gleichgewicht bringen.
Plötzlich sagte Tyacke:»Sollte ich doch mit dem Admiral zusammentreffen, werde ich ihn um Bier für uns bitten. Ich habe gesehen, daß einige Soldaten auf dem Flaggschiff Bier tranken — warum also nicht auch wir? Das Wasser bringt hier sicherlich mehr Leute um als die Holländer.»
Beide sahen überrascht auf, als Segrave sich meldete:»In London wurde viel über Vizeadmiral Bolitho geredet.»
«Und was bitte?«fragte Tyacke mit täuschend freundlicher Stimme.
Segrave vergaß seine Seekrankheit und gab bereitwillig Auskunft.»Meine Mutter meinte, er hat sich unmöglich benommen. Unmöglich! Wie konnte er nur seine Frau wegen dieser Kokotte verlassen? Ganz London empört sich darüber. «Weiter kam er nicht.
«Wenn Sie das vor der Mannschaft sagen, werde ich Sie unter Arrest stellen und in Eisen legen lassen, junger Mann«, drohte Tyacke. Aber Simcox war sicher, daß die Freiwache trotzdem jedes Wort gehört hatte. Warum erregte sich der Kommandant so?
Tyacke beugte sich vor.»Und wenn Sie hier solchen Schwachsinn noch einmal sagen, werde ich Sie zum Duell fordern, egal wie jung und nutzlos Sie sind.»
Segrave wurde blaß. Simcox legte Tyacke eine Hand auf den Arm.»Ruhe, Ruhe. Woher soll's der Junge wissen?»
Tyacke schüttelte seine Hand ab.»Verdammt noch mal, Ben, was wollen diese Leute eigentlich?«Er wies mit dem Zeigefinger auf Segrave.»Wieso dürfen sie Männer verurteilen, die jede Stunde, jeden Tag ihr Leben aufs Spiel setzen, damit andere in Ruhe und Frieden daheim ihren Tee trinken und ihre Kekse essen können? Ich kenne Bolitho nicht, aber so etwas lasse ich nicht über ihn sagen.»
In der Stille gurgelte die See ums Heck.»Tut mir leid, Sir«, wisperte Segrave schließlich.
Tyacke lächelte unerwartet.»Ich hätte Sie nicht anbrüllen sollen, das war nicht fair. Sie können sich nicht wehren. «Er wischte sich die Stirn mit einem zerknüllten Taschentuch.»Aber jedes Wort zählt, also seien Sie auf der Hut.»
In dem frischen Nordwest war von draußen plötzlich der Ruf des Ausgucks zu hören:»Segel an Steuerbord voraus!»
Simcox klemmte seine Tasse in einem sicheren Winkel fest.
Der Ruf war gerade zur rechten Zeit gekommen.
«Kurs Südwest zu Süd liegt an, Sir. Voll und bei.»
Das Deck der Miranda neigte sich noch stärker, als der Schoner unter dem Druck von Groß- und Vorsegeln dem Ruder gehorchte. Wasser rauschte um die halbnackten Seeleute, die die gequollenen Leinen dichtholten und mit gekrümmten Zehen Halt an Deck suchten. Leutnant Tyacke zog sich zur Luvreling hoch. Am Bug sprang die Gischt empor und ließ den Klüver im Sonnenlicht metallisch glänzen.
Simcox nickte zustimmend, als der rundliche Bootsmann George Sperry noch zwei Mann ans Ruder stellte. Die Miranda wurde über eine geschnitzte Pinne gesteuert, was in dem harten Wind viel Kraft verlangte. Er sah Midshipman Segrave im Schatten des Großmasts stehen, der unter dem Segeldruck ächzte. Der Junge versuchte müde, den Männern auszuweichen, die an ihm vorbeihasteten, um die Brassen dichtzusetzen.»Wahrschau!«rief er ihm zu. Eine See stieg über die Leereling ein, begrub den Jungen unter sich und rauschte weiter. Segrave kam schnaufend und pitschnaß wieder frei.
«Her zu mir!«rief Simcox.»Achten Sie auf Segel, Wind und Kompaß, damit Sie endlich ein Gefühl für die Miranda kriegen.»
Hoch oben knallte etwas wie eine Peitsche: Eine Leine war gebrochen und wehte aus. Schon enterte ein Matrose auf, ein zweiter warf ihm eine Leine zum Anstecken nach, denn zum Spleißen blieb keine Zeit.
Segrave klammerte sich an die Beting unter dem Besanbaum und starrte nach oben. Die Männer, die da arbeiteten, scherten sich einen Teufel um den Wind, der sie aus der Takelage reißen wollte. Noch nie hatte er sich so elend, so verzweifelt und so mutlos gefühlt. Noch immer schmerzte ihn Tyackes Anpfiff wegen Bolitho. So wütend hatte er den Kommandanten noch nie erlebt.
Segrave wollte Tyacke ausweichen, doch das war auf einem so kleinen Schiff unmöglich. Es gab niemanden, mit dem er reden konnte, der ihn verstand. Auf seinem letzten Schiff hatte er gleichaltrige Kameraden gehabt, aber was blieb ihm hier? Sein Vater war ein Held gewesen, an den sich Roger Segrave allerdings kaum erinnern konnte. Bei seinen seltenen Besuchen daheim war er ihm fremd geblieben, ein unzufriedener Mann. Lag es daran, daß er drei Töchter, aber nur einen Sohn hatte? Eines Tages traf die Nachricht ein, daß Kapitän Segrave in der Schlacht von Camperdown gefallen war. Mit trauriger, doch gefaßter Stimme hatte die Mutter den Kindern den Tod des Vaters mitgeteilt. Da hatte schon ein Onkel, pensionierter Admiral in Plymouth, Roger unter seine Fittiche genommen — zum bleibenden Ruhm der Familie. Als der Onkel ein passendes Schiff gefunden hatte, wurde der Junge mit einer Seekiste an Bord geschickt. So begannen für ihn drei höllische Jahre auf See. Segrave haßte die Marine, ihm war die Familientradition herzlich gleichgültig. Ehe er Portsmouth verließ, hatte er seiner Mutter sein Herz ausgeschüttet, aber sie hatte ihn umarmt und dann von sich geschoben. Ihre Stimme klang verletzt:»Und das, nachdem der Admiral soviel für dich und unsere Familie getan hat! Sei tapfer, Roger. Wir wollen stolz auf dich sein!»
Segrave versteifte sich jetzt, als der Kommandant sich zu ihm umdrehte. Wenn er nur nicht dieses furchtbar entstellte Gesicht gehabt hätte! Segrave ahnte trotz seiner Jugend, wie sehr Tyacke darunter litt. Und obwohl er es gar nicht wollte, starrte er ihm immer wieder ins Gesicht.
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