Er schüttelte den Kopf, empfand dabei allerdings einen derartigen Schmerz auf seinen Schultern, als ob man ihm einen schweren Gegenstand aufgebürdet hätte. Er senkte den Blick und entdeckte dabei ein Brett vor seiner Brust, auf dem etwas geschrieben stand. Was war das wohl für ein seltsames Schmuckstück? Indem er vorsichtig versuchte, sich an seiner Leine auszubalancieren, gelang es ihm zwar, einzelne Schriftzüge zu erkennen, doch es war in seiner Stellung – pardon! Hängung – unmöglich, sie zu entziffern. Und da er im Begriff war, durch seine Neugier wieder um die eigene Achse gedreht zu werden, mußte er diese Neugier auf später vertagen. Und allmählich kam der Beamte wieder zur Ruhe – wie ein Pendel, das geruhsam austrudelte.
Er fühlte sich steif und starr, aber es ging auf sechs zu, und das gab ihm Mut. Kurz vor sechs würden die Parktore geöffnet. Ach, wenn doch Lavarède pünktlich sein könnte!
Was wollte dieser Ausländer eigentlich von ihm? War er gar ein Verwandter von Robert Lavarède? Wollte auch er mit ihm über den Ägypter Niari reden? Das wäre eine ärgerliche Zuspitzung, denn der Korsar mit der grünen Kapuze hatte darüber wahr gesprochen.
Niari hatte sich einige Monate vorher bei der Generaldirektion der Pazifikpolizei eingefunden, das heißt bei Sir Toby höchstselbst, und ihm von dem ägyptischen Abenteuer erzählt, das aus Robert Lavarède einen Thanis gemacht hatte; und Allsmine, dem es vor allem darum ging, sich bei seinen Vorgesetzten lieb Kind zu machen, hatte den armen Teufel arretieren lassen. Seitdem schmorte er im geheimen im Fort von Broken Bay, das einige Meilen nördlich von Sydney gelegen war.
»Bah!« sagte der Beamte und verjagte diese Gedanken. »Die im Augenblick einzig interessante Angelegenheit ist die, daß Lavarède mich befreit. Danach werden wir ihn schon dazu bringen, diskret zu sein.«
Und wie um seinen Satz mit einem Ausrufezeichen zu versehen, schlug es in diesem Moment halb sechs.
»Noch dreißig Minuten Ungewißheit«, frohlockte der Gehenkte.
Doch augenblicklich schwieg er still und lauschte. Zu seiner Rechten war das Geräusch von Schritten zu vernehmen …
Wer, zum Teufel, geht denn da im Park spazieren? dachte Toby.
Und wieder lauschte er angestrengt, denn diesmal waren auch Schritte zu seiner Linken zu hören.
Noch ein Spaziergänger?
Währenddessen verstärkte sich sowohl zur Linken wie auch zur Rechten das Geräusch der Schritte. Also kamen die unsichtbaren Personen näher. Doch wer waren sie?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Aus gegensätzlichen Wegen kommend, betraten zwei junge Männer das Rondell. Beide blond, nach der letzten Mode gekleidet, das Monokel im Auge und untadelige Handschuhe übergestreift. Charakteristisches Zeichen: Jeder hatte einen Notizblock und einen Bleistift in der Hand. Als sie sich sahen, hatten beide den gleichen Ausdruck von Unwillen auf dem Gesicht, den sie jedoch sofort wieder unterdrückten. Lächelnd gingen sie aufeinander zu und führten folgenden bizarren Dialog (den der Autor in ganzer Länge wiederzugeben als überaus glücklich ansieht, denn es sind ja gerade die Anglizismen, die ihm diese besondere Souveränität verleihen):
»Also gemeinsam, lieber Kollege?«
»Sie sagen es.«
»Die New Sydney Review hat den König der Reporter in ihren Reihen.«
»Sie zwingen mich geradewegs zu der Erklärung, daß der Kaiser der Journalisten für den Instantaneous arbeitet.«
»Zu liebenswürdig.«
»Ganz Ihrerseits.«
»Und Sie sind hier …?«
»Interview.«
»Genauso wie ich.«
»Die New Sydney Review hat also eine Mitteilung von Korsar Triplex erhalten?«
»Sie hat. Genauso wie der Instantaneous , denke ich?«
»Also, packen wir es an.«
»Packen wir es an, und ab damit zu unserer Zeitung! Und eine kleine Wette, wo es zuerst erscheint?«
Beide ließen ein fröhliches Lachen ertönen, dann verbeugten sie sich, den Hut in der Hand, voller Respekt vor dem Gehenkten, der auf solcherlei Höflichkeit nur mit einer schrecklichen Grimasse antworten konnte.
Der Polizeichef hatte sich nicht ein Wort der Unterhaltung entgehen lassen. Er hatte sofort begriffen, daß der Korsar, bevor er daranging, sich zu rächen, als erstes die Zeitungen von seiner Absicht informiert hatte. Voller Wut fühlte er, daß er diesen beiden Reportern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Noch nie war ein Interviewter in solch unvorteilhafter Position gewesen! Die Lächerlichkeit war unausweichlich. Sie würde in Tausenden von Exemplaren unter die Leute kommen. Überall würde man sich am Mißgeschick des obersten Polizisten weiden.
Er schauderte, so gut es sein Galgen erlaubte, zusammen, als er ein zweifaches Klicken hörte.
Während er noch überlegte, hatten die beiden Journalisten ihre fotografischen Gerätschaften installiert – mit denen jeder australische Reporter ausgestattet ist – und ein überaus plastisches Konterfei des Gehenkten abgelichtet.
Ohne sich weiter um die wütenden Blicke ihres Opfers zu kümmern, fragten sie ihn ausgesucht höflich: »Danke für die Liebenswürdigkeit, Sir Toby. Die Pose war sehr effektvoll. Wie geht es Ihnen heute morgen?«
»He, Leute!« sagte Toby ächzend. »Anstatt solcher Scherze würdet ihr besser daran tun, eine Leiter zu besorgen, um mich aus dieser mißlichen Lage zu befreien.«
Die so Angesprochenen lächelten.
»Das werden wir auch gleich tun, Sir. Aber es ist sehr schwierig, Sie überhaupt zu erwischen, und die Umstände lassen uns genügend Zeit für ein Interview, was wir natürlich gern nutzen wollen.«
Allsmine ächzte weiter.
»Nur eine kleine Verzögerung«, erklärten die beiden liebenswürdig. »Eine Mitteilung des Korsaren Triplex hat uns über das Geschehene informiert. Und so haben wir uns auf den Weg gemacht. Und sind über die Gitter geklettert, weil die Eingangspforte verschlossen war. Das taten wir aus drei Gründen: erstens, um ein Foto von Ihnen zu machen – das ist geschehen. Zweitens, um den Text abzuschreiben, der vor Ihrer Brust hängt. Das wird in einer Minute geschehen sein.«
Sie zückten ihren Notizblock und Bleistift und lasen laut, was Allsmine erlaubte, nun endlich den Wortlaut zu erfahren, der seine Brust schmückte:
»Korsar Triplex hätte mühelos den sogenannten Allsmine wegen seiner Verbrechen bestrafen können. Es hätte genügt, den Strick um seinen Hals zu legen statt um seine Schultern. Wenn er ihn nicht stranguliert, so aus dem einzigen Grund, diese Aufgabe der britischen Gerichtsbarkeit zu überlassen, der ganz gewiß früher oder später ein Licht über den Genannten aufgehen wird.«
»Die Sache ist notiert«, meldeten die Reporter zufrieden. »Kommen wir nun zu unserem dritten Grund, der mehr von allgemeinem Interesse ist. Wollen Sie uns bitte Ihre Eindrücke über das Hängen schildern?«
Bei diesem Ansinnen konnte Sir Toby nur schreien: »Schert euch zum Teufel!«
Aber die Vertreter der New Sydney Review und des Instantaneous waren kaum die Leute, einer solchen Aufforderung zu folgen. Zuvorkommend erklärten sie: »Nehmen Sie sich ruhig Zeit zum Überlegen, wir werden uns gedulden. Die Frage berührt ein weites Spektrum menschlicher Erfahrung, ja, ich wage zu behaupten, sie ist sogar von philosophischem Interesse. Ihre Gedanken dazu sind vollkommen authentisch. Denn wie es scheint, hatte in der Geschichte ein Gehenkter noch nie soviel Muße, über seine Impressionen zti reflektieren.«
Und da sich Allsmine in seiner ohnmächtigen Wut mit einem hartnäckigen Schweigen am besten zu wappnen glaubte, zog einer der Reporter aus seiner Tasche ein ledernes Zigarrenetui, bot erst seinem Kollegen eine Havanna an und nahm sich dann selbst eine. Friedlich pafften beide vor sich hin.
Читать дальше