Aus Allsmines Kehle drang kein Laut. Er hatte Angst, richtiggehend Angst. Die letzten Worte des Kapitäns hatten in seinen Ohren geklungen wie die Posaunen von Jericho. Ja, sein Feind hatte richtig gerechnet; es gab für ihn etwas, was schlimmer war als der Tod – das war die Lächerlichkeit, der Verlust seines Prestiges, die Erschütterung seiner Stellung. Und woher wußte dieser unbekannte Mensch die genauen Details, die er, der Schuldige, für ewig unter dem Tuch des Vergessens begraben glaubte? Denn alles entsprach der Wahrheit in der geißelnden Anklage des Korsaren. Alles!
In seiner ängstlichen Verwirrung glomm nur ein Hoffnungsschimmer. Man würde ihn nicht töten, sein Richter hatte das jedenfalls formell erklärt. Er würde am Leben bleiben … und könnte somit den Kampf ums Überleben wagen. Und dann diese blonden Haare, die anscheinend dem einfältigen Silly gehörten – würden sie ihn nicht auf eine Spur führen? Gaben sie ihm nicht – ihm, einem listigen, einfallsreichen Polizeiwiesel – einen Fingerzeig, der ihn zum Ende des Garnknäuels führen könnte?
Mitten in diesen Überlegungen stieß er plötzlich einen Schrei aus. Auf ein Zeichen ihres Chefs hatten sich die Matrosen auf ihn geworfen, und während ihm die einen eine Kapuze über den Kopf stülpten, banden ihm die anderen die Hände fest hinter dem Rücken zusammen.
Wieder war er blind und bewegungslos.
Wie bei der Ankunft fühlte er, daß er an den Armen gepackt wurde. Er leistete keinen Widerstand, wozu auch! Seine Wächter brachten ihn nach draußen, verstauten ihn in der Kutsche, und die nächtliche Spazierfahrt begann aufs neue.
Siebentes Kapitel
Interview mit einem Gehenkten
Wieder hielt die Kutsche nach etwa einer Stunde, und der Polizeichef wurde ohne großes Brimborium aus seinem Gefängnis geholt. Er unterschied einzelne Stimmen und wurde gewahr, daß Hände seinen Körper streiften, daß Stricke um seine Brust geschlungen und unter den Armen hindurchgezogen wurden. Eine Art Kette, an der ein schwerer Gegenstand befestigt sein mußte, wurde auf seine Schulter gelegt. Plötzlich sagte eine Stimme, die er als die des Vorsitzenden des merkwürdigen Gerichts der grünen Masken erkannte: »Zieht hoch, Jungs!«
Die Kapuze wurde ihm abgenommen. Aber er hatte keine Muße, sich umzuschauen. Ein starker Stoß ließ ihn taumeln, eine unwiderstehliche Kraft zog ihn empor, seine Beine verloren den Boden unter sich, und er baumelte in der Luft. Schnelle Schritte erklangen auf dem Erdboden; undeutlich nahm er menschliche Schatten wahr, die eilends flüchteten, dann herrschte wieder Stille, unterbrochen nur hier und da vom Rauschen der Blätter im Wind oder von dem erschreckten Piepsen von Vögeln.

Verblüfft und verstört beschaute sich Sir Toby die Gegenstände, die ihn umgaben.
Er hing zwölf Fuß über der Erde. Unter seiner Brust waren starke Seile hindurchgeschlungen, die in einer gedrehten Pferdeleine endeten. Diese wiederum führte zu einem Balken, der über seinem Kopf schwebte und dessen Umrisse sich vor dem noch nachtdunklen Himmel abzeichneten. Er folgte mit den Augen diesem Holzstück und bemerkte, daß es am anderen Ende mit einem anderen Balken einen rechten Winkel bildete, der parallel zur Halteleine verlief. Allsmine wollte den Kopf drehen, um besser sehen zu können. Diese einfache Bewegung hatte zur Folge, daß sich der Polizeichef um seine eigene Achse drehte. Allsmine stieß einen Schrei aus und blickte nach oben. Die winklig zueinander angebrachten Balken bildeten täuschend echt einen Galgen, an dem er hing …
Der Anblick eines Gehenkten hat etwas Erschreckendes, und es ist besonders peinlich für einen Gentleman, dessen Beruf es im allgemeinen ist, seinen Nächsten zu henken, sich selbst im Schatten eines umgekehrten L baumeln zu sehen.
Zu der physischen Angst kam bald noch eine moralische Folter hinzu. Mit einer Logik, die bewies, daß der oberste Polizeiherr der Pazifikpolizei selbst unter extremsten Umständen noch denken konnte, schloß dieser nämlich, daß er nicht ewig zwischen Himmel und Erde baumeln könne. Nun, da es ihm unmöglich war, sich selbst zu befreien, so schloß er messerscharf, mußten das andere tun. Andere, das heißt Mitbürger, die seiner Gerichtsbarkeit unterstanden. Ihn, dessen Name allein britische Untertanen an allen Pazifikküsten erzittern ließ. Wie eine gerupfte Henne in der Luft baumelnd. Entsetzlich!
Korsar Triplex’ Worte fielen ihm wieder ein: »Lächerlichkeit tötet. Ich werde Sie durch Lächerlichkeit töten.«
Gewiß hatte sich der Kopf eines Feindes noch nie eine teuflischere Strafe ausgedacht.
Ein ungeheures Lachen, so malte sich Sir Toby entsetzt aus, würde alle Australier schütteln, wenn sein Mißgeschick bekannt würde. Sein Ansehen erhielte einen tödlichen Stoß.
Jeder andere Beamte hätte sich unter ähnlichen Umständen aufgegeben und damit abgefunden, auf den Titelseiten der Witzblätter zu fungieren; nicht so Allsmine. Er gehörte zu denen, die ein Hindernis zwar irritiert, aber auch stimuliert.
»Alles in allem«, murmelte er, sich dabei in schwindelerregender Höhe um sich selbst drehend, »kann ein überraschender Schlag alles ändern. Man ist nicht lächerlich, wenn man sich rächt. Ich halte schon ein Ende der Intrige in Händen. Silly. Silly, dessen Haarschopf ich vorhin zu erkennen glaubte. Silly, den der Patron vom Centennial-Park-Hotel zufällig erkannt zu haben meinte.« Und mit einem Lächeln bemerkte er weiter: »Das an Mr. Lavarède adressierte Billett …, noch ein Name, den man sich merken muß …, darin stand doch, daß mich der Tourist im Park in der Nähe des Cook-Denkmals treffen soll. Bin ich vielleicht gar an diesem Ort?«
Die ersten Strahlen der Morgensonne erschienen. Der Gehenkte blickte um sich. Der Galgen war inmitten eines Kreises errichtet, von dem mehrere schattige Parkwege ausgingen. Aber das dichte Blätterwerk der Bäume erlaubte nicht, allzuviel zu erkennen. In dem Maße jedoch, wie das Licht stärker wurde, konnte man durch die belaubten Zweige wie durch Fenster hindurchschauen. Undeutlich und verschwommen zeichnete sich hinter diesen »Fenstern« etwas Weißschimmerndes ab.
»Das Denkmal. Das ist die Statue!« schrie der Polizeichef. Also ist nichts verloren. Wenn ich das Glück habe, daß dieser Mister Lavarède hier ankommt, bevor mich jemand anders sieht, werde ich ihn bitten zu schweigen … Vorausgesetzt, man hat ihm im Centennial nicht ausgeredet, hierherzukommen. Das wäre für mich höchst ärgerlich, denn für mich wäre das schon ein Sieg, wenn allein er auf dem laufenden wäre. Und ohne jemandem etwas zu erzählen, nicht einmal James Pack, der natürlich hinter meinem Rücken ebenfalls lachen würde, werde ich einen Beamten beauftragen, den kleinen Silly zu überwachen. Man darf ihn nicht aus den Augen lassen. Ich fühle, daß ich Triplex auf diese Art und Weise erwischen werde. Das sagt mir mein Instinkt, und der hat mich noch nie im Stich gelassen.
Inzwischen hatte sich die Sonne über den Horizont erhoben. Ihre Strahlen erhellten die Vogelnester, und deren Insassen betrachteten voller Neugier den Gehenkten. Zweifellos wunderten sich diese Geschöpfe, einen Menschen auf einem gewohntermaßen nur ihnen vorbehaltenen Niveau zu erblicken.
Für Sir Toby begannen neue Qualen. Fünf Uhr schlug es von den verschiedenen Stadtuhren. Das langsame Verhallen der Schläge ließ ihn erneut zittern.
Wenn Mr. Lavarède kommt, dachte er, dann nicht vor sechs. Also noch eine Stunde. Vorausgesetzt, niemand entdeckt mich früher. Der Lächerlichkeit entgehen – das ist die Frage. Aber ich habe eigentlich alle Chancen auf meiner Seite. Der Park öffnet ebenfalls nicht vor sechs.
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