Dann der widerwärtige Gestank des feuchten Lappens, mit dem Syntaxanalysen oder niederstürzende Strahlensatz- Möwen an der Tafel verwischt wurden – zusammen mit eben diesem Gestank.
Dann der geheimnisvolle, anziehende Geschmack von zerbissener Kreide: Unter dem Mikroskop verwandelt sich das gebrochene Schüppchen, das gegen die schlaffe Glasmalerei einer beißenden, glitschigen Zwiebel eingetauscht wird, in ein fantastisches Mosaik aus Planktonmuscheln des frühen Paläozoikums. Das abgestorbene, blendende Weiß einer in der Faust zerdrückten Ebene aus Sedimentgestein: wie Nussschalen verstreute Nullen einer Datierung.
Dann die frühreifen Ausmaße, von denen die Hälfte der Mädchen befallen wurde und denen ein Pantagruel’sches Einheitensystem zugrunde lag. In der Klasse herrschte ein Massenmatriarchat, das nicht so sehr auf ritterlicher Unterwürfigkeit als vielmehr auf physischer Dominanz beruhte.
In den Pausen dann das unbeschreiblich leckere Zusammenspiel aus süßem Sandgebäck und Tomatensaft. Der Ranzen roch immer nach Holzleim, mit dem die Lehrbuchrücken geklebt waren, und nach dem zerquetschten Apfel, den man als Nachmittagsimbiss bekommen hatte.
Außer den Äpfeln gab es in der großen Pause den Geschmack von Fruchtkefir aus einem Riesenfass mit einer zinnoberroten Hieroglyphe als Inventarnummer. Der Gernegroß Saweli trank elf Becher, nachdem er in der Zeitschrift Wissen ist Macht gelesen hatte, dass Sauermilchprodukte Alkohol enthalten.
Dann der Geruch von Holzspänen, die zauberhaft auf die Werkbank niederrieseln wie Pinocchios seidig-durchsichtige Löckchen: Unter dem Hobel singt die Kiefer. Der Geruch des heißen, kurz aufrauchenden Kurvenschnitts im Sperrholz, das unter der auf Hochtouren laufenden Laubsäge nachdunkelt. Der betörende Gestank des Treibstoffs, der in den Tank des leinengesteuerten Modellflugzeugs gegossen wird. Das angesengte Pfeifen des nach einer halben Umdrehung anspringenden Motors, anrollen, abheben, Schraube, Fassrolle, Senkrechtflug, Kurve Richtung Pappel, Millimeterarbeit unter dem Ast hindurch, Kehre, kühner Anflug zum Looping – ausweglos und endlos –, dann Sturzflug in den Boden: der Geruch vom Klebstoff der Längsträger.
Der süß-salzige Geschmack im Mund, wenn man eins auf die Nase bekam [50] eins auf die Nase bekommen ( разг. ) – получить удар в нос
und mit geschwollener Lippe den Rotz hochzog: Die Prügeleien fanden bei den Garagen statt, hinter dem Zaun, neben dem durchgerosteten Pobeda . Aus derselben Ecke – der Geschmack der bei einem Treueschwur zerkauten Erde.
Der Herbst riecht wehmütig nach Antonowka-Äpfeln und Blättern, die die Kinder während des Sportunterrichts im Stadtpark zusammenraffen: Husch-husch, die einen beim Fangenspiel, die anderen beim Verstecken. Rita nimmt Anlauf, springt und zieht ihn mit auf einen Haufen flammender Ahornblätter, der an der einen Seite bereits ein wenig raucht: Sich darin zu wälzen ist heiß und weich und unglaublich süß, doch plötzlich ein Blitz auf den Lippen – und Verstummen, und die Jacke ist angesengt, und Scham, und Erschütterung, und dann, im Umkleideraum, ein unfassbares, unbekanntes Getöse in der Brust wegen des perlenen Flecks auf der Unterhose, der unbegreiflicherweise nach dem Kuss aufgetaucht war. (Komischerweise stand ihm beim Widerschein dieses Flecks und bei Perlmuttknöpfen am Hemd immer der »Tran der Uferlaternen«* vor Augen.)
Dann der fade, taubmachende Geschmack des Schnees am Fausthandschuh: auf der Schlittschuhbahn oder beim Endspurt des Fünf-Kilometer-Langlaufs. Die Loipe verlief rund um eine Gaspumpanlage, die durch eine Rohrleitung die Rülpser aus dem Erdinnern von Urengoi nach Uschgorod jagte. Die ganze Schulzeit über heulte in der Anlage ununterbrochen eine schwermütige Trauersirene. Im Sommer war dieses Geräusch eine gute Orientierungshilfe, wenn jemand Pilze oder Beeren sammeln gegangen war und sich verirrt hatte. In der Anlage hatte es einmal einen Zwischenfall gegeben, bei dem zig Hektar Wald abgebrannt waren. Um die trostlose Brandstätte zogen sie nun ihre monotonen Kreise. Mitten in dem verschneiten Zauberwald schürte dieser riesige Aschekrater eine untergründige Angst. Unbemerkte Geister totgeborener Hoffnungen, frühgeborene Ideen, die sich ins Leben drängten, streunten zum wehmütigen Geheul der Turbinen durch die dichten Staketen der verbrannten Stämme. Damals wusste Koroljow nicht, dass die Sache in der Grenzstadt Uschgorod noch nicht erledigt war, dass die donnernde Ladung der Anlage weiter durch die Rohre raste – nach Warschau, Prag, Berlin, Belgrad, Dubrownik, Triest, Venedig – und sich als gelb-blaue Seerosen an den Herdringen in Wohnungen und Palazzi ausbreitete und über Töpfen, Schmorpfannen und Kaffeekochern duftende Dämpfe entließ, die sich auflösten über der Lagune, über den Kanälen und Plätzen des »aufgeblähten Croissants«*, der »ertrunkenen Schönen«*. Der Zivilisation.
Die Bö des großen Umbruchs trübte Koroljows Jugendjahre. Das schmutzige Hellblau ihrer Wände zog sich über ihm zusammen wie der düstere Himmel über einem leeren Rettungsboot.
Manche Erinnerungen brannten. So wie die Handflächen, wenn man im Tarzanflug am Seil von der Turnhallendecke hinabschießt.
Das Klirren eines zerbrochenen Kreidestücks.
Das Poltern der Schulbänke.
Das Dröhnen der Klingel.
Das Feuerwerk.
Das Feuerwerk wurde auf einem unbebauten Gelände abgeschossen, in den Flussniederungen des Setun, wo es eine spezielle Betonbrüstung für Salvenwerfer gab. Sie rannten dicht an die Brüstung. Sahen das Zeichen des Kommandanten. Schauten hoch, dem jaulenden, senkrecht emporschießenden Stängel hinterher, an dem nach kurzer Pause strahlende Astern erblühten, die wie das Fangnetz eines Gladiators ein leuchtendes Spinnennetz in den weiten Himmel warfen. Direkt nach dem Aufblitzen musste man sich hinhocken und die Hände auf den Hinterkopf legen, damit man keine Papphülsen abbekam. In der Nähe bauten sie sich im Frühling oberhalb des Setun Baumhäuser – Laubhütten auf Bretterbohlen, die sie an den Ästen geeigneter Weiden befestigten. Dort alberten sie herum, setzten sich angekokelte halbrunde Saluthülsen als Kippas auf, büffelten Landawschitz Band eins*, knackten die Aufgaben für die Aufnahmeprüfung an der Fakultät für Mechanik und Mathematik, plagten sich mit stereometrischen Übungen aus dem Lehrbuch für Physik und Technik, spielten Préférence, rauchten, lasen Salinger, übten sich an einer Art Gravizap * oder starrten einfach nur in den riesenhohen, leeren Himmel, der sie anlockte wie die Zukunft oder eine entblößte Jungfer.
Oft dachte Koroljow über Folgendes nach: Seine Kommilitonen waren alle ungefähr Jahrgang 1970. Dank der historischen Umstände hatten sie das Denken in einer Zeit gelernt, als es fast nichts zu denken gab, oder besser gesagt, als man keine Zeit dafür hatte: Die Flutklappen des Gefangenenschleppers standen offen, die Mannschaft war von Bord gegangen und hatte kein Rettungsboot dagelassen. Menschen, die um 1970 geboren sind, unterscheiden sich von denen, die man unter normalen Umständen Altersgenossen nennen würde. Nach Dreißig verflüchtigt sich der Unterschied zwar langsam, doch noch ein paar Jahre zuvor waren Menschen Jahrgang 1967 oder 1973 entweder »noch nicht wie sie« oder »nicht mehr so wie sie«. In der Jugend nimmt man ungeheuer beschleunigt Eindrücke und Gedanken auf, die Zeit vergeht langsamer, da sie vor Leben trieft, als befände man sich in größter Gefahr. Daher, so überlegte Koroljow, hatten sie sich zwischen 18 und 20 auf dem Kamm eines Tsunamis befunden, von dem man jetzt weiß, was er umgestürzt hat. Ihre Entwicklung vollzog sich parallel zu dieser turbulenten Zeit, sie waren das erste Gelalle der Epoche – und obwohl sie den Umwälzungen keine Beachtung schenkten, warfen sie doch unwillkürlich einen Blick darauf, betrieben Selbstreflexion und konnten, im Unterschied zu den anderen, das in der Ferne erkennbare Ufer – waren es Felsen, war es das Paradies? – und den tristen, unerreichbaren Horizont freier überblicken. Mit anderen Worten, sie hatten einen einmaligen Bewegungsvektor: entlang der Welle. Ob sie wollten oder nicht, sie projizierten die Entwicklungen und die Zerstörung der Umgebung auf ihre eigene Entwicklung. Insofern konnte man damals durchaus sagen, dass ihre Lebensjahre im gleichen Tempo dahingaloppierten wie die Inflation. Gerade weil die Epoche, die sie hervorgebracht hatte, ihrem Wesen nach destruktiv war, hätte er früher nie gedacht, dass von seiner Generation jemals etwas Bemerkenswertes zu erwarten sei. Koroljow dachte, dass er im besten Fall ein guter Beobachter sei und seine Bestimmung offensichtlich einzig in einer genauen phänologischen Selbstanalyse liege. Doch insgesamt erwies sich die Schaffenskraft dann als genauso stark wie die Selbstzerstörung. Die Freiheit hatte sie entschädigt. Wenn er sich jetzt umschaute und Bilder, Taten und Strömungen betrachtete, so wurde Koroljow klar, dass ein erheblicher Teil des wenigen Guten im Land das Werk seiner Generation war.
Читать дальше