Alles begann mit den Äpfeln. Wie sie sie im Garten einsammelt, durch das nasse Gras kriecht, wie sie auf einem Apfel eine riesige Nacktschnecke entdeckt: schwarz glänzend, mit kleinen Fühlern, picklig wie eine Zunge.
Sie steckt die Schnecke in den Mund. Spürt den erstarrten, kalten Körper. Nimmt sie wieder heraus. Die Schnecke macht sich lang, zeigt die Fühlerchen. Aus irgendeinem Grund findet sie das lustig, lachend lässt sie sich ins Gras fallen, wird von einem Weinkrampf zerschmettert.
Alles begann damit, wie sie gierig, verzückt, schmatzend die Äpfel isst. Wie ein Pferd vorbeiläuft, zu ihr herüberschielt: Die Mähne wogt, Widerrist, Rücken, Kruppe fließen dahin. Wie der Huf aufstampft, wie unter dem schaukelnden Schweif Batzen dampfender Äpfel herauskommen und zerfallen.
Wie sie auf dem Markt in Toksowo Äpfel verkauft. Wie sie einen großen Apfel vom Stapel nimmt. Ihn in der hohlen Hand wiegt. Ihn anhebt und umdreht: Sie führt den Arm hin und her und schaut, leise lächelnd, darüber hinweg die Kunden an.
Woraufhin sie ihn langsam zum Mund führt, die Augen schließt und tief einatmet.
Jetzt stumpfte sie ab, das wusste sie, weil sie den Verstand getrennt von sich wahrnahm. So wie jemand, bei dem die Koordination der Nervenenden verloren geht und der dann seine Glieder immer mehr als Fremdkörper empfindet.
Diese Geistesstörung hatte Farbe, Form und Stimme. Sie war ein großer grauer Vogel, von einem Stock zum Krüppel geschlagen. Der Vogel landete auf einem kräftigen Ast, der aus der rechten Schläfe wuchs, seufzte heiser und zog den zerschmetterten Flügel ein.
Das Denken fiel ihr immer schwerer. Der Vogel landete immer häufiger auf dem Ast, und sein Schatten im Augenwinkel wurde immer größer. Manchmal tat Nadja das Denken weh. Wenn es ihr ein ums andere Mal nicht gelingen wollte, eine Zahlenreihe zusammenzuzählen, biss sie sich ins Handgelenk, schlug sich auf die Hand, heulte tränenlos.
Aber sie beruhigte sich wieder, und dann trat Gleichgültigkeit in ihr Gesicht, schwere Teilnahmslosigkeit.
Die Schwachsinnigkeit durchdrang Nadja wie eine Starre. Dann kam es ihr vor, als wäre sie ein Strauch. Ein kleiner Strauch, versteinert im immerwährenden, dumpfen Schmerz. Als hätte sich die Welt rundum in Wind verwandelt, einen sanften oder kräftigen Wind, und nur er allein konnte den Strauch berühren, an ihm zupfen, ihn loslassen, biegen, umknicken.
Doch manchmal ging es besser. Dann füllte sie Seite um Seite mit Rechenreihen. Fürs Rechnen sammelte sie in den Geschäften die Kassenbons auf: Unten auf dem Bon stand die Lösung. Sie holte sich eine ganze Handvoll und addierte alle Einkäufe. Bedächtig, mit herausgestreckter Zunge, am Stift kauend. Schrieb die Lösungen auf und setzte zum Schluss ihren Namen darunter: Nadja. Nicht, dass sie Angst gehabt hätte, ihn zu vergessen, aber so war es leichter, sich mit diesen Zahlen in Beziehung zu setzen: dass wirklich sie dies getan hatte und kein anderer. Es passierte ihr auf Schritt und Tritt, dass sie vergaß, dass dieses Ding hier etwas mit ihr zu tun hatte. Dass sie das hier geschrieben hatte. Dass sie diese Anziehpuppe mit einem Messer ausgeschnitten hatte. Nadja. So hieß die Puppe. Hier stand es, auf dem kleinen Knie. Das war das Schwerste – Namen zu geben. Nadja kannte nur einen Namen: Mama.
Sie wusste nicht, wie weit sie sich schon entfernt hatte, dennoch fasste sie neuen Mut [43] neuen Mut fassen – приободриться
.
Aber die bezwungene Angst, die nun tiefer im Verborgenen steckte, wurde immer stärker.
Einmal, als sie gerade alle gesammelten Kassenbons durchgerechnet hatte, erinnerte sie sich an etwas Besonderes. Sie war mit der Mutter in eine andere Stadt gefahren, um Mutters Freundin zu besuchen. Die Freundin war nicht zu Hause, also spazierten sie durch die Stadt, liefen durch den Uferpark und am Strand entlang, dann wieder zurück, aber immer noch machte niemand auf.
In der Nähe gab es ein Internat, und sie setzten sich auf eine Bank im Schulhof. Kinder liefen herum. Sie spielten ein Spiel. Nadja kannte es nicht. Die Kinder bestimmten einen, der dran war [44] j-d ist dran ( разг. ) – подошла чья-либо очередь, чей-либо черёд
. Sie sammelten Zweige im Hof zusammen. Legten ein kleines Brett schräg auf einen Ziegelstein. An dem einen Ende des Brettes häuften sie die Zweige auf. Ein Kind trat auf das Brett, und während der, der dran war, die rundum verstreuten Ästchen einsammelte, rannten die anderen in alle Richtungen davon. Als der Junge endlich alle Stöckchen wieder auf das Brett gelegt hatte, ging er los, um die anderen abzuschlagen. Allerdings konnte derjenige, hinter dem er her war, zum Brett rennen, drauftreten und wieder weglaufen, und dann musste er aufs Neue alle Stöckchen einsammeln. Kurz, das Spiel war für den, der dran war, die reinste Folter: Er musste das Holzbrett nach allen Seiten verteidigen. Nadja tat er leid – ein dicker, keuchender Junge, dessen Lippen sich beim Rennen vorwölbten, die Backen schlackerten, das Gesicht war verzerrt, als würde er weinen – ihr tat der Kopf weh.
Über dem Schulhof stieg Staub auf und legte sich langsam zu ihren Füßen nieder. Oben, in der Krone einer Akazie, gurrte eine Turteltaube. Ein Borkenkäfer, lackiert und gesprenkelt wie ein Stückchen Sternenhimmel, plumpste vom Baum herunter und zappelte jetzt heftig und kitzelig in Nadjas Hand.
Zwei Mädchen rannten dem Dicken davon und versteckten sich neben ihnen. Sie schnauften und greinten, kamen mal hinter der Bank hervor, liefen dann kreischend wieder zurück. Eines der Mädchen sah mehrmals zu Nadja hin, achtete dann aber, vom Spiel gebannt, wieder auf den Jungen.
Die Mutter sagte:
»Diese Kinder haben keine Eltern. Niemand achtet darauf, dass sie nach dem Unterricht die Schulkleidung ausziehen, sie tragen sie auch beim Spielen.«
»Mama, wo sind denn ihre Eltern?«
In diesem Moment kam das Mädchen hinter der Bank hervor und sah Nadja direkt ins Gesicht.
»Du bist bekloppt, stimmts?«
Der Dicke kam angerannt, schlug dem Mädchen auf die Schulter, das andere Mädchen kreischte auf, genau über Nadjas Ohr.
Alle stürmten davon.
Nadja verließ mit der Mutter den Schulhof. Es war an der Zeit, nachzusehen, ob Tante Alja nicht zurück war.
Am Tor stand ein kleiner Junge in der prallen Sonne. Er weinte und wischte sich mit den kleinen Fäusten die Tränen ab.
Die Mutter fragte ihn:
»Kindchen, warum weinst du denn?«
Der Junge sah sie an und heulte noch lauter.
Die Mutter hockte sich vor ihn.
»Willst du mir nicht sagen, warum du weinst?«
Er sagte schluchzend:
»Gestern sollte mich meine Mama besuchen kommen. Ich warte auf sie. Sie hat versprochen, dass sie mir Buntstifte kauft.«
Die Mutter stand auf und nahm den Jungen bei der Hand.
»Komm, mein Junge, wir gehen. Deine Mama hat mir gesagt, dass ich dir Buntstifte kaufen soll. Komm.«
Sie gingen zusammen zur Buchhandlung.
Im Laden waren die Fenster mit schweren Samtgardinen verhangen, deshalb war es kühl. Es roch nach Buchrücken, Holzleim und Gouachefarben. Ein greller, satter Lichtstreifen voller herumwirbelnder Staubteilchen bahnte sich seinen Weg durch die Vorhänge, lief keilförmig über den Boden, warf eine Linie quer über das Gesicht des Jungen.
Er starrte stur vor sich auf den Boden.
Die Mutter erstand in der Schreibwarenabteilung drei Filzstifte, eine Packung Buntstifte, ein Lineal, einen Radiergummi und ein Malbuch.
Nadja sah die ganze Zeit den Jungen an.
Draußen kaufte die Mutter beiden ein Glas Sprudelwasser mit einer doppelten Portion Sirup.
Die Zähne des Jungen schlugen ans Glas. Hin und wieder schüttelte ihn ein Seufzer.
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