Da wurde die Friedhofswärterin auf sie aufmerksam.
»He, was machst du da, elendes Weib?«, schrie die Frau sie über den Grabzaun an.
Nadja war vor Schreck ganz aufgeregt und machte tiefe Verbeugungen.
Die Frau arbeitete noch nicht lange dort als Wärterin und machte so ein Geschrei, damit die Wachleute es hörten, damit sie sahen, wie gewissenhaft sie arbeitete.
Aber als sie ernsthaft in Fahrt kam, wandte Nadja sich zu ihr um und brüllte:
» Sachla *, Schluss jetzt! Sachla !« Wenn Nadja aufgeregt war, rutschten ihr immer aserbaidschanische Wörter heraus.
Dann kam einer der Wachleute, ein kräftiger junger Mann in Militär-Camouflage, rief die verschreckte Nadja zu sich, ging zusammen mit ihr zu Wadja, gab ihm Zange, Schaufel, eine Rolle Stahldraht und ging mit ihnen zum Weißen Haus.
Im Park hinter dem rechten Gebäudeflügel, bei den Ausgängen, an denen die meisten Menschen von Scharfschützen getötet worden waren, standen Tafeln mit roten Wimpeln, voller Fotos, dazu kurze Texte, wie und wo derjenige umgekommen war, außerdem unansehnliche Zäune, die mal ein bemaltes Eisenkreuz, mal ein geschnitztes Holzkreuz mit Dach umgaben. Daneben verstaubte Kränze, Tafeln mit Informationen über die Oktoberereignisse, Gedenkfotos, Namenslisten und Biografien der Toten. Alles zusammen erinnerte an einen kleinen Dorffriedhof.
Wadja grub die Beete um, Nadja harkte das Gras, lockerte die Erde auf. Männer mit Trauerbinden am Arm und Frauen in schwarzen Kleidern sprachen leise miteinander, raschelten mit Plastiktüten und machten sich an den Tafeln zu schaffen.
Von da an gingen sie hin und wieder dorthin, um nach dem Rechten zu schauen, etwas auszubessern, herzurichten, zu befestigen. Nadja machte ringsum sauber, klebte die Fotos fest. Wadja richtete die improvisierten Mahnmale her, nagelte Folien an, zog mit schwarzer Farbpaste die Buchstaben auf den Listen nach, die übers Jahr verblichen waren.
Einmal hatte Wadja eine Idee, er holte sich Bretter von einer Baustelle, zimmerte Holzböcke, wickelte ein Stacheldrahtgeflecht darum, steckte ein paar Rohre hinein, befestigte noch Aluminiumfetzen daran – und kroch dann den ganzen Tag auf den Knien drumherum, band Fetzen einer roten Fahne an den Stacheldraht, spießte Alufolie auf und steckte einige abgeknickte rote Nelken in das Konstrukt, die er sich bei den befreundeten Blumenhändlerinnen am Weißrussischen Bahnhof zusammengesammelt hatte.
Nadja konnte sich nur an unbedeutende Dinge gut erinnern. Sie wusste beispielsweise noch genau – sie brauchte nur die Augen zu schließen – wie das Brillenetui ihrer Mutter innen gerochen hatte: Es war der gleiche herrliche Geruch nach gegerbtem Wildleder wie in dem Sportgeschäft in ihrer frühesten Kindheit, in einer Kleinstadt am Kaspischen Meer. Sie waren in der sengenden Hitze zum Uferpark gelaufen (aufreizender Jodduft des blutheißen Meeres, schwerer Harzgeruch der von der Sonne aufgeheizten Zypressen). Nach der glühenden Straße, auf der der Asphalt klebrig-zäh unter den Sohlen nachgegeben hatte, war das Geschäft eine selige Wohltat, angefangen mit der Kühle und eben diesem erregenden Geruch. Später spazierten sie gebannt durch die beiden betörenden Verkaufsräume voller Sportartikel: Da gab es einen Billardtisch, eine Tischtennisplatte, einen Boxsack, einen Korb voller Seilknäuel und schließlich eine Box mit steil abfallenden Seiten und bordeauxrotem Samtbezug, an dem, wie bei einer Vogelscheuche, Tuchärmel herabhingen (wie die Ärmelschoner eines Buchhalters ohne Kopf), die an den Bündchen von einem Gummiband zusammengehalten wurden. Es war eine Box, in der man blind Filme bearbeiten konnte. Besonders faszinierend waren die Backgammonspiele, Schachbretter und Federballsets in den Regalen. Wunderschöne gefiederte Korken, die sich als weißer Bogen beflügelter Fantasie zwischen schallenden Schlägern drehten, erbebten und beim Aufprall seufzten, ganz sanft, wie rauschende Federn beim Auffliegen in den Himmel. Nadja erinnerte sich noch daran, wie die Mutter ihre Versunkenheit von hinten an der Schulter gepackt und vom Einschlummern weggeführt hatte, zum hinteren Ausgang Richtung Meer.
Vor allem aber wusste sie noch, was sie so hineingezogen hatte in das Innere dieses Wildledergeruchs, langsam und unausweichlich wie eine Sonnenfinsternis: Es war eine Sonne, die da lockte, ein herrlicher, lederner, wie die Antarktis weißer und geheimnisvoller, im Parkettglanz erstrahlender Volleyball.
Schlimm war, dass sie nicht wusste, wo der Mensch aufhörte. Sie ahnte, dass das eigentlich gar nicht so schlimm war, dass es doch dann egal war, wer man war. Dass sie die Grenze nicht bemerken würde. Besser gesagt, wenn sie sie überschritten hätte, wäre es ihr längst egal. Aber genau da lag die Angst, weil man vollkommen wehrlos war – da half kein Schlagen oder Beißen. Oder vielleicht war die Angst doch ein bisschen woanders. Aber wem sollte man sagen, was sich nicht ausdrücken ließ? Wadja hörte ihr zu, verstand sie aber nicht. Verstand nicht, wie es schlimmer werden sollte als ohnehin schon. Und sie wusste es auch nicht.
Sie brauchte das Reden: dass man ihr etwas erzählte, sie nach etwas fragte. Ihr ganzes Leben lang hatte die Mutter mit ihr geredet. Immerzu. Hatte vorgelesen, gesprochen, erzählt, diskutiert. Hatte sie dazu gebracht, Bücher zu lesen. Nadja fiel das alles schwer. Sie konnte kaum antworten. Die Qual, sich auszudrücken, saß in ihr wie ein sengender, wunder Klumpen. Die Wörter existierten gleichsam getrennt von ihr. Sie behagten ihr nicht, weil sie nie dem ähnelten, was sie eigentlich waren.
Schlimm war, dass sie die Grenze nicht bemerkte. Wadja redete mit ihr. Er redete, hörte aber nicht zu – und wollte auch eigentlich gar nicht, dass sie redete. Er sang auch manchmal. Aber das reichte nicht. Es brauchte das systematische Vorgehen, mit dem die Mutter sie immer wieder aus dem Nichtsein herausgezerrt hatte.
Darin hatte das Leben der Mutter bestanden. Immer nach außen gerichtet: wie sie sprach und sich ausdrückte, wie sie mit der Tochter über alles und jeden redete. Über die Verwandten, übers Essen, über die Prüfungen, dass man schauen muss, wo man bleibt, und was für Menschen es gibt – gute, schlechte, gleichgültige. Sie wusste noch, was die Mutter ihr einmal gesagt hatte – sonst wusste sie fast nichts mehr:
»Mach einen Bogen um dünne Menschen [42] einen Bogen um j-n machen – обходить, избегать кого-либо
. Sie sind so dünn, weil sie wegen etwas traurig sind. Und das kann sich auf ihr Verhältnis zu dir auswirken.«
Mit viel Büffeln und zweimal Schmiergeld schafften sie und ihre Mutter die Aufnahmeprüfung am Technikum. Dort wurde sie ausgelacht, aber sie war gar nicht so schlecht. Die Lehrer zuckten die Achseln. Die Schüler, die zum Teil nicht einmal gut Russisch konnten, lachten trotzdem weiter, neckten sich nun aber gegenseitig: Die sei zwar bekloppt, habe aber bessere Noten als manch anderer.
Niemand wusste, dass sie alles, was sie lernte, am nächsten Tag vergessen hatte. Und dass sie für die Prüfungen noch einmal von vorne anfangen musste.
Ihr ganzes Leben bestand aus Lernen, aus der Jagd nach der Norm, nach dem Leben. Und sie nahm ihr Los an, ergeben und mit mechanischer Arglosigkeit.
Langsam vergaß Nadja ihre Mutter. Als die Mutter gestorben war, stand Nadja einfach auf und ging. Sie erinnerte sich nur noch an den Bahnhof. Wie sie den Bahnsteig auf und ab gelaufen war und gewimmert hatte. Sie hatte nichts sagen können, hörte nur immer sich selbst, ihr schreckliches Wimmern, und wurde allmählich taub.
Ein Milizionär kam, nahm sie am Arm, versuchte sie wegzuführen, fragte etwas … sie wimmerte.
Danach erinnerte sie sich an nichts mehr, an überhaupt nichts. Nicht an die Beerdigung, nicht an die Tante. Das Gedächtnis gab ihr erst viel später und stückchenweise die Vergangenheit zurück.
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