1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Obwohl… vielleicht brauche ich ja gar keine Worte, dachte sie.
Maya hörte für einen Moment auf, den Rücken ihrer Schwester zu berühren. Als sie erneut begann, verwendete sie ihren Zeigefinger, um heimlich und langsam die Form eines Buchstaben zwischen Saras Schulterblätter zu ziehen – ein großes D.
Für einen kleinen Moment hob Sara neugierig ihren Kopf an, doch sie schaute dabei Maya nicht an und sagte auch kein Wort. Maya hoffte verzweifelt, dass sie verstand.
R, zeichnete sie als nächstes.
Dann Ü.
Rais saß in dem Sessel in Mayas erweitertem Blickfeld. Sie wagte es nicht, zu ihm herüberzublicken, aus Angst, verdächtig zu erscheinen. Stattdessen starrte sie gerade vor sich hin, so wie sie es schon die ganze Zeit tat, und zeichnete die Buchstaben.
C. K.
Sie bewegte ihren Finger langsam, absichtlich. Zwischen jedem Buchstaben legte sie eine Pause von zwei Sekunden ein, zwischen den Worten wartete sie fünf Sekunden ab, bis sie ihre Nachricht vollendet hatte.
Drück meine Hand, falls du mich verstehst.
Maya sah nicht einmal, wie Sara sich bewegte. Doch aufgrund der Handschellen lagen ihre Hände nah beisammen und sie spürte wie kühle, klamme Finger sich für einen Moment eng um ihre legten.
Sie verstand. Sara hatte die Nachricht verstanden.
Maya begann von vorne, bewegte sich so langsam wie möglich. Es gab keine Eile und sie musste sicherstellen, dass Sara jedes Wort verstand.
Gibt es eine Möglichkeit, schrieb sie, dann rennst du weg.
Schau nicht zurück.
Warte nicht auf mich.
Finde Hilfe. Hole Papa.
Sara lag ruhig und bewegungslos während der ganzen Nachricht. Es war Viertel nach drei als Maya endlich fertig war. Anschließend spürte sie den kühlen Druck eines dünnen Fingers auf ihrer Handinnenfläche, die teilweise an Saras Wange geschmiegt war. Der Finger zeichnete ein Muster auf ihrer Hand, den Buchtaben N.
Nicht ohne dich, lautete Saras Nachricht.
Maya schloss ihre Augen und seufzte.
Du musst, schrieb sie zurück. Sonst sind wir beide verloren.
Sie gab Sara nicht die Chance, zurückzuschreiben. Nachdem sie ihre Nachricht beendet hatte, räusperte sie sich und sagte leise, “Ich muss aufs Klo.”
Rais runzelte die Stirn und zeigte auf die geöffnete Badezimmertür am anderen Ende des Raumes. “Nur zu.”
“Aber…” Maya hob ihren Arm mit der Handschelle an.
“Na und?” fragte der Attentäter. “Nimm sie mit. Du hast eine Hand frei.”
Maya biss sich auf die Lippe. Sie wusste, was er da tat. Das einzige Fenster im Badezimmer war klein, fast kaum groß genug für Maya. Es war ganz unmöglich zu entkommen, während sie an ihre Schwester gefesselt war.
Langsam schlüpfte sie vom Bett und stieß ihre Schwester an, damit sie mitkäme. Sara bewegte sich mechanisch, als ob sie vergessen hätte, wie sie ihre Gliedmaßen eigenständig verwenden müsste.
“Ich gebe dir eine Minute. Schließ nicht die Tür ab”, warnte Rais. “Solltest du es dennoch versuchen, dann trete ich sie ein.”
Maya ging voran und schloss die Tür zu dem winzigen Bad, das mit den beiden darin schon überfüllt war. Sie schaltete das Licht an – sie war sich ziemlich sicher, dass sie eine Kakerlake dabei sah, wie sie sich unter dem Waschbecken in Sicherheit brachte – und anschließend den Entlüfter, der laut über ihnen brummte.
“Ich werde nicht”, flüstere Sara fast sofort. “Ich gehe nicht ohne—”
Maya hielt sich schnell einen Finger an die Lippen, als Zeichen, dass sie still sein sollte. Es könnte gut sein, dass Rais an der anderen Seite der Tür stand und lauschte. Der ging keine Risiken ein.
Sie zog schnell den Kuli aus dem Bündchen ihrer Schlafanzughosen. Sie brauchte etwas, um darauf zu schreiben, doch es gab nur Toilettenpapier. Maya riss ein paar Stückchen ab und legte sie auf das kleine Waschbecken, doch jedes Mal, wenn sie mit dem Kuli darauf drückte, riss es ein. Sie versuchte es noch einmal, doch das Papier riss erneut.
Das ist sinnlos, dachte sie bitterlich. Der Duschvorhang würde ihr auch nichts bringen, er war nur ein Plastiktuch, das über der Badewanne hing. Das kleine Fenster hatte keine Vorhänge.
Doch es gab etwas, das sie verwenden konnte.
“Halt still”, flüsterte sie in das Ohr ihrer Schwester. Saras Pyjamahosen waren weiß mit einem aufgedruckten Ananasmuster – und sie hatten Taschen. Maya drehte eine der Taschen nach außen und riss sie, so vorsichtig wie möglich, ab, bis sie ein Dreieck mit rauen Kanten aus Stoff hatte, das zwar den Obstaufdruck auf der einen Seite hatte, aber auf der anderen ganz weiß war.
Sie glättete es flink auf dem Waschbecken und schrieb vorsichtig, während ihre Schwester dabei zuschaute. Der Kuli verhakte sich mehrere Male in dem Stoff, doch Maya biss sich auf die Lippe, um nicht vor Frust zu fluchen, während sie ihre Nachricht schrieb.
Industriehafen Jersey.
Dubrovnik.
Sie wollte noch mehr schreiben, doch ihr war schon fast die Zeit ausgegangen. Maya versteckte den Kuli unter dem Waschbecken und rollte die Stoffnachricht fest ein. Dann suchte sie verzweifelt nach einem Ort, an dem sie das Stück Stoff verstecken konnte. Sie konnte die Nachricht nicht einfach zusammen mit den Kuli unter das Waschbecken stecken, das wäre zu auffällig und Rais war gründlich. Die Dusche stand ganz außer Frage. Würde der Stoff nass, dann verliefe die Tinte.
Ein plötzliches Klopfen an der dünnen Badezimmertür erschrak beide.
“Die Minute ist um”, warnte Rais klar von der anderen Seite aus.
“Ich bin gleich fertig”, antwortete sie hastig. Sie hielt ihren Atem an, als sie den Deckel des Spülkasten anhob und hoffte, dass der brummende Entlüfter jegliche Kratzgeräusche überdeckte. Sie steckte die aufgerollte Nachricht durch die Kette des Spülmechanismus, hoch genug, sodass sie nicht das Wasser berührte.
“Ich sagte, dass du eine Minute hast. Ich öffne jetzt die Tür.”
“Geben Sie mir nur ein paar Sekunden, bitte!” bettelte Maya, während sie schnell den Deckel zurückschob. Dann riss sie sich noch ein paar Haare aus und ließ sie auf den geschlossenen Spülkasten fallen. Mit ein wenig Glück – mit viel Glück – würde jemand, der nach ihnen suchte, den Hinweis bemerken.
Sie konnte nur hoffen.
Der Knauf der Badezimmertür drehte sich. Maya spülte die Toilette und ging in die Hocke, um so zu tun, als zöge sie sich die Schlafanzughosen hoch.
Rais steckte seinen Kopf durch die offene Tür und blickte auf den Boden. Langsam ließ er seinen Blick an den zwei Mädchen hinaufwandern und inspizierte sie beide abwechselnd.
Maya hielt den Atem an. Sara griff nach der gefesselten Hand ihrer Schwester und ihre Finger verhakten sich ineinander.
“Bist du soweit?” fragte er langsam.
Sie nickte.
Er schaute angewidert nach rechts und links. “Wasch dir die Hände. Dieses Zimmer ist widerlich.”
Das tat Maya mit einer rauen, orangefarbenen Handseife, während Saras Handgelenk schlaff neben ihrem eigenen hing. Sie trocknete ihre Hände an dem braunen Handtuch und der Attentäter nickte.
“Zurück aufs Bett. Marsch.”
Sie führte Sara zurück in das Zimmer und auf das Bett. Rais wartete einen Moment und sah sich in dem kleinen Bad um. Dann schaltete er den sowohl Entlüfter als auch das Licht aus und kehrte zu seinem Sessel zurück.
Maya legte ihren Arm um Sara und hielt sie fest.
Papa wird die Nachricht finden, dachte sie verzweifelt. Er wird sie finden. Ich weiß es.
Reid fuhr Richtung Süden auf der Bundesstraße und versuchte verzweifelt, nicht zu rasen, aber dennoch zügig voranzukommen, während er sich auf die Raststätte zubewegte, an der Thompsons Wagen zurückgelassen wurde. Trotz seiner Ungeduld, einen Hinweis, eine Spur zu finden, begann Optimismus sich in ihm auszubreiten, jetzt, wo er endlich auf der Straße war. Seine Trauer war immer noch da, sie lag ihm so schwer im Magen, als hätte er eine Kegelkugel verschluckt, doch nun war sie in einer Hülle von Entschlossenheit und Hartnäckigkeit verkapselt.
Читать дальше