1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Sie war sich nicht sicher, ob das nicht noch beunruhigender war, als aufzuwachen und zu bemerken, dass er sie beobachtete.
Dann blinzelte er und sie hielt ein weiteres erschrockenes Keuchen zurück, bei dem ihr Herz bis in die Kehle schlug.
“Geschädigte Gesichtsnerven”, sagte er ruhig, fast flüsternd. “Ich habe gehört, dass das etwas verwirrend sein kann.” Er zeigte auf die Box mit dem restlichen chinesischen Essen, das einige Stunden zuvor auf ihr Zimmer geliefert worden war. “Du solltest was essen.”
Sie schüttelte den Kopf und hielt Sara auf ihrem Schoß fest.
Der Nachrichtensender wiederholte leise die wichtigsten Schlagzeilen des Tages. Man hielt eine Terrororganisation für die Freisetzung eines tödlichen Pockenvirus in Spanien und anderen Teilen Europas verantwortlich. Ihr Anführer und der Virus wurden in Gewahrsam genommen und auch einige weitere Mitglieder wurden verhaftet. Am Nachmittag hatten die Vereinigten Staaten offiziell ihr Reiseverbot in alle Länder, mit Ausnahme von Portugal, Spanien und Frankreich, wo es weiterhin isolierte Ausbrüche der mutierten Pocken gab, aufgehoben. Doch alle schienen zuversichtlich, dass die Weltgesundheitsorganisation die Situation unter Kontrolle hatte.
Maya hatte vermutet, dass man ihren Vater zur Unterstützung dieses Falles gesandt hatte. Sie fragte sich, ob er es war, der den Anführer gestellt hatte. Sie fragte sich, ob er wieder zurück im Land war. Sie fragte sich, ob er Mr. Thompsons Leiche gefunden hatte. Ob er bemerkt hatte, dass sie entführt worden waren – oder ob es überhaupt irgendjemand gemerkt hatte.
Rais saß in dem gelben Sessel und ein Handy lag auf der Armlehne. Es war ein älteres Modell, fast prähistorisch für heutige Umstände – es diente nur, um Anrufe zu tätigen und Nachrichten zu senden. Maya hatte gehört, dass man diese Dinger Prepaid-Handy im Fernsehen nannte. Man konnte es nicht mit dem Internet verbinden und es hatte auch kein GPS. Aus den Polizeisendungen wusste sie, dass man es nur durch die Telefonnummer orten konnte, die jemand haben musste.
Es schien, dass Rais auf etwas wartete. Einen Anruf oder eine Nachricht. Maya wollte verzweifelt wissen, wohin es ging, ob es überhaupt ein Ziel gab. Sie vermutete, dass Rais wollte, dass ihr Vater sie fand, sie aufspürte, doch der Attentäter war anscheinend nicht in Eile, irgendwo anzukommen. Welches Spiel er da wohl spielte, wunderte sie sich. Er stahl Autos und veränderte die Richtung, entkam den Behörden, und das alles in der Hoffnung, dass ihr Vater sie zuerst finden würde? Würden sie einfach von Ort zu Ort irren, bis es zu einer Auseinandersetzung kam?
Plötzlich tönte ein monophonischer Klingelton aus dem Handy neben Rais. Durch das grelle Geräusch zuckte Sara leicht in ihren Armen zusammen.
“Hallo.” Rais antwortete tonlos. “Ano.” Das erste Mal nach drei Stunden stand er aus dem Sessel auf, während er englisch für irgendeine Fremdsprache austauschte. Maya konnte bloß englisch und französisch sprechen, und sie erkannte eine Hand voll anderer Sprachen durch einzelne Wörter und Akzente, doch diese war ihr unbekannt. Sie bestand aus vielen Kehllauten, doch war nicht ganz unangenehm.
Russisch? dachte Sie. Nein. Polnisch vielleicht. Es hatte keinen Sinn, zu raten. Sie konnte sich nicht sicher sein und selbst, wenn sie wüsste, um welche Sprache es sich handelte, so würde sie dennoch nichts von dem Gesagten verstehen.
Sie hörte trotzdem zu und bemerkte, dass die Laute “z” und “-ski” häufig verwendet wurden. Sie versuchte, verwandte Worte aufzuschnappen, doch es schien keine zu geben.
Ein Wort stand jedoch heraus, und es ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
“Dubrovnik”, sagte der Attentäter, als wolle er etwas bestätigen.
Dubrovnik? Erdkunde war eines ihrer Lieblingsfächer. Dubrovnik war eine Stadt im Südwesten Kroatiens, ein berühmter Hafen und ein beliebtes Urlaubsziel. Doch wichtiger als all das war die Andeutung, die dieses Wort bedeutete.
Es hieß, dass Rais vorhatte, sie außerhalb des Landes zu bringen.
“Ano”, sagte er (was wie eine Bejahung schien. Sie nahm an, dass es “Ja” bedeutete). Und dann: “Industriehafen Jersey”.
Abgesehen von “Hallo” waren da nur zwei englische Wörter in der ganzen Unterhaltung und sie hatte sie leicht hören können. Ihr Motel lag bereits in der Nähe von Bayonne, einen Katzensprung vom Industriehafen Jersey. Sie hatte ihn schon viele Male zuvor gesehen, wenn sie die Bücke von Jersey nach New York oder zurück überquerte. Da standen Stapel von bunten Frachtcontainern, die von Kränen auf riesige, dunkle Schiffe geladen wurden, die sie nach Übersee bringen würden.
Ihr Herzschlag verdreifachte sich. Rais würde sie aus der USA, über den Industriehafen Jersey, nach Kroatien bringen. Und von dort aus… sie hatte keine Ahnung, und niemand anders würde sie haben. Es gab nur wenig Hoffnung, dass man sie jemals wieder fände.
Maya konnte das nicht zulassen. Ihre Entschlossenheit zurückzukämpfen wurde stärker. Ihre Entschiedenheit, etwas gegen diese Situation zu unternehmen, erwachte erneut in ihrem Inneren.
Das Trauma, Rais dabei zu beobachten, wie er die Gurgel der Frau im WC der Raststätte heute durchtrennt hatte, klang immer noch nach. Sie sah die Szene jedes Mal, wenn sie ihre Augen schloss. Der ausdruckslose, tote Blick. Die Blutlache, die fast ihre Füße berührte. Doch dann strich sie über das Haar ihrer Schwester und wusste, dass sie wortlos das gleiche Schicksal akzeptieren würde, wenn es bedeutete, dass ihre Schwester in Sicherheit und außerhalb der Reichweite dieses Mannes wäre.
Rais fuhr mit seiner Unterhaltung in dieser Fremdsprache fort, schnatterte in kurzen, betonten Sätzen. Er drehte sich um und öffnete die dicken Vorhänge ein wenig, nur ein paar Zentimeter, um auf den Parkplatz hinaus zu spähen.
Er stand mit dem Rücken zu ihr, vielleicht das erste Mal, seit sie in dem zwielichtigen Motel angekommen waren.
Maya streckte ihren Arm aus und öffnete vorsichtig die Schublade des Nachttisches. Es war das einzige, was sie erreichen konnte, da die Handschellen sie an ihre Schwester fesselten und sie nicht vom Bett aufstehen konnte. Ihr Blick huschte nervös zu Rais’ Rücken und dann zurück zur Schublade des Nachttisches.
Da lag eine Bibel drin, eine sehr alte, mit einem abgeblätterten, gebrochenen Rücken. Und neben ihr lag ein einfacher, blauer Kuli.
Sie nahm ihn heraus und schloss die Schublade erneut. Fast im selben Moment drehte sich Rais wieder um. Maya erstarrte und hielt den Kuli in ihrer geschlossenen Faust.
Doch er gab keine Acht auf sie. Es schien, als wäre er jetzt gelangweilt vom Anruf und wollte endlich auflegen. Etwas im Fernsehen erweckte seine Aufmerksamkeit für einige Sekunden und Maya versteckte den Kuli im elastischen Bund ihrer Flanellschlafanzughosen.
Der Attentäter grummelte ein halbherziges Auf Wiedersehen und beendete das Gespräch, indem er das Handy auf das Sofakissen warf. Er drehte sich zu ihnen um und musterte jedes Mädchen einzeln. Maya starrte geradeaus, ihr Blick so leer wie nur möglich, und gab vor, die Nachrichten zu sehen. Scheinbar zufriedengestellt nahm er erneut seine Position auf dem Sessel ein.
Maya strich sanft mit ihrer freien Hand über Saras Rücken, während ihre jüngere Schwester mit halb geschlossenen Augen den Fernseher, oder vielleicht auch gar nichts, anstarrte. Sara brauchte Stunden nach dem Vorfall in der Raststättentoilette, um mit dem Weinen aufzuhören, doch jetzt lag sie einfach da und ihr Blick war leer und verglast. Es schien, als sei nichts mehr von ihr übrig.
Maya strich mit ihren Finger über Saras Wirbelsäule, um sie zu trösten. Es gab keine Möglichkeit für die beiden, untereinander zu kommunizieren. Rais hatte es mehr als deutlich gemacht, dass es ihnen nicht erlaubt war, miteinander zu sprechen, es sei denn, sie würden gefragt. Maya konnte ihr keine Nachricht übermitteln, keinen Plan aushecken.
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