Der Polizist blickte ihn an.
»Ich will da allein hinein.«
Mike schüttelte den Kopf, zog seinen Revolver und entsicherte ihn. »Das ist zu gefährlich.«
»Es ist nicht gefährlich. Nicht mehr.« Doug schaute in die besorgten Augen des Polizisten. »Das ist eine Sache zwischen ihm und mir.«
Mike sah ihn mit suchendem Blick an; dann nickte er. »In Ordnung. Aber nehmen Sie den hier mit.« Er gab ihm die Waffe. »Sie wissen, wie man damit umgeht?«
Doug schüttelte den Kopf. »Nicht genau. Aber das ist egal. Es wird bei ihm sowieso nicht funktionieren. Das wissen Sie.«
»Nehmen Sie ihn trotzdem mit. Nur für den Fall.«
Wieder war das Wimmern zu hören. Es klang wie jemand, der Schmerzen hatte.
»Jetzt reicht es aber! Ich ...«, setzte Mike an und bewegte sich vorwärts.
»Nein«, sagte Doug, ergriff ihn am Arm und zog ihn zurück. »Ich gehe alleine.«
Mike blieb stehen und starrte ihn an, wich aber nicht zur Seite. Doug hielt seinem Blick stand, spürte das Gewicht des Revolvers in seiner Hand. »Mir wird nichts passieren.«
Mike nickte langsam. »Okay«, sagte er schließlich. »Wir sind hier draußen, falls Sie uns brauchen.« Die Worte des Polizisten waren beruhigend, ganz im Gegensatz zum Klang seiner Stimme. »Wenn ich irgendwas Seltsames höre, komme ich rein.«
»In Ordnung.«
Doug betrat den hinteren Raum.
Den Unterschlupf des Postboten.
Smith funkelte ihn aus dem Gerümpel an. Oder genauer, es funkelte ihn an. Denn der Postbote erschien nun kaum noch menschlich. Sein Körper war zusammengeschrumpft. Er war dünn geworden und verdreht und verformt wie der Körper eines riesigen Insekts. Seine rotes Kopfhaar, das nun rötlich blond war, war gewachsen und hing in dicken Strähnen herab. Die Zähne in seinem eingefallenen Gesicht sahen übergroß und scharf aus, als wären sie spitz gefeilt. Um ihn herum lagen die Tische und Regale, Maschinen und Behälter, Postsäcke und sonstiges Zubehör in wirrem Durcheinander.
Hinter Doug schlug die Tür ins Schloss.
Der Postbote lachte, ein rasselndes Kichern, das Doug kalte Schauer über den Rücken jagte. Die Luft war merkwürdig schwer, ein knisternder, wirbelnder Energiestrom, der sich wie elektrische Spannung anfühlte.
In den veränderten Lichtverhältnissen, die die geschlossene Tür verursacht hatte, sah Doug, dass er und der Postbote nicht allein in dem Raum waren. In der hinteren Ecke, an die Wand gelehnt, beinahe versteckt im Schatten eines umgestürzten Tisches, lag ein regungsloser Körper mit wild zerzausten Haaren. Der Körper wimmerte Mitleid erregend. Doug trat vor, bis er das Gesicht erkennen konnte.
Giselle Brennan.
Es verschlug ihm den Atem. Giselle war in braunes Packpapier gewickelt wie eine Mumie. Ein Arm hatte sich aus der Umhüllung befreit und war in unnatürlichem Winkel verdreht, mit Gummibändern an der Körperseite fixiert und mit Lagen von gefalteten, orangefarbenen und blauen Express-Umschlägen umwickelt. An vielen Stellen war Blut durch die Verpackung gesickert, war schwarz geworden und in Streifen eingetrocknet. Giselles Gesicht, Hals, Kinn und Wangen waren kreuz und quer von dünnen Schnitten übersät; gerade, sich überschneidende Linien, die ein Feld aus Quadraten, Rechtecken und Parallelogrammen bildeten. Schnitte durchzogen auch ihre Lippen, sodass es aussah, als ob man ihren Mund zugenäht hätte.
»Giselle«, sagte Doug und ging einen Schritt auf sie zu.
Sie stöhnte.
Erst jetzt sah Doug auf ihrer weißen Stirn mehrere parallele Wellenlinien aus schwarzer Tinte, die von einem Kreis ausgingen, in dem etwas geschrieben stand.
Ein Poststempel.
Unter ihrem Haaransatz sah er eine gleichmäßig aufgeklebte Reihe von Briefmarken.
Doug drehte sich zum Postboten um. »Was hast du mit ihr gemacht, verdammt?«
Smith lachte. Das rasselnde Geräusch klang wie Fingernägel, die über eine Schultafel kratzten. »Postunfall«, sagte er. Seine Stimme war nur noch ein leises Wispern, das Doug kaum noch erkannte.
»Du Bastard.« Doug atmete durch. Plötzlich begriff er, was der Postbote getan hatte. Er hatte ein Paket aus Giselle gemacht. Ein verdammtes Paket, fertig zum Versand.
Die Kreatur hustete. »Der Postal Service kann nicht für Verletzungen zur Verantwortung gezogen werden, die durch die Postzustellung entstehen. Wäre Giselle als Ergebnis ihrer Arbeit verletzt worden, würde sie unter das Bundesarbeitsgesetz fallen. Aber sie ist Teilzeit-Angestellte, die bei einem Unfall verletzt wurde, der nicht im Zusammenhang mit ihrer Arbeit stand. Ich habe ihr geholfen, so gut ich konnte. Ich habe ihre Wunden bandagiert. Mehr kann ich nicht tun. Jetzt liegt es an Ihnen.« In seinen Insektenaugen lag Hunger. »Wenn Sie sie nicht sofort ins Krankenhaus bringen, stirbt sie. Vielleicht ist es jetzt schon zu spät.«
Diesmal war das Stöhnen der jungen Frau ein Wort. »Hilfe.«
Doug stand regungslos da; er wusste nicht, was er tun sollte. Die Sekunden dehnten sich wie Stunden. Im Raum war es gespenstisch still, ebenso die Schalterhalle und die Stadt draußen. Kein Geräusch störte diese Stille. Es war, als wartete die ganze Welt auf seine Entscheidung.
»Helfen Sie mir«, flehte Giselle. Ihre Stimme war schwächer als ihr Stöhnen.
»Die Kleine wird sterben, wenn Sie nichts für sie tun«, flüsterte der Postbote.
Doug brauchte Zeit, um die Situation zu analysieren und das Problem zu lösen.
Aber er hatte keine Zeit.
»Mister Albin ...«, flüsterte der Postbote.
»Hilfe«, flehte Giselle.
Doug schloss die Augen. Alles in ihm, sein Herz, seine Seele, sagten ihm unaufhörlich, dass er sich in Gang setzen und Giselle ins Krankenhaus bringen musste. Doch eine eisige Entschlossenheit hielt ihn vom Handeln ab. Wenn er Giselle half, wäre alles verloren. Der Postbote war offensichtlich dem Tod nahe. Dies war lediglich ein letztes Aufbäumen, sein allerletzter Versuch, das Blatt zu wenden. Wenn Doug diese »Post« annahm, verlieh sie dem Postboten vielleicht genug Energie, um angreifen zu können. Wenn die Energie der Post proportional zu ihrem Gewicht oder Wert war, entsprach Giselle Hunderten von Schecks und Briefen.
»Helfen Sie mir ...«
Doug konnte sie nicht sterben lassen, konnte ihren Tod nicht verantworten. Das würde bedeuten, alle Anstrengungen zunichte zu machen, die er und die anderen in der Stadt unternommen hatten. Es konnte sogar bedeuten, dass der Postbote seine volle Macht zurückbekam und wieder zu töten begann. Doch Doug konnte nicht tatenlos dastehen und zusehen, wie Giselle starb. Er musste sie ins Krankenhaus bringen. Indem er sich weigerte, sie zum Tode zu verurteilen, verurteilte er vielleicht andere zum Tod. Aber dieses Risiko musste er eingehen.
Er trat einen Schritt vor. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der skelettartige Arm des Postboten ein Muster in die Luft malte. Doug blieb stehen und drehte sich um.
Eine Träne lief über Giselles Wange, wurde vom Papier abgelenkt und in immer kleinere Rinnsale geteilt. »Mister Albin ...«
Die Lippen des Postboten bewegten sich stumm. Seine Augen waren geschlossen.
»Lassen Sie mich nicht sterben«, flehte Giselle.
Ihre Stimme klang anders als sonst, bemerkte Doug, rhythmischer, weniger natürlich, und in ihren Worten lag etwas, das gestelzt und förmlich erschien und nicht echt klang. Doug blickte von Giselle zum Postboten und wieder zurück.
Der Kopf des Postboten drehte sich nach rechts.
Giselles Kopf drehte sich nach rechts.
Doug stand regungslos da und wusste nicht, was er tun sollte.
»Sie sind der Einzige, der wo mich retten kann.«
Doug versteifte sich. »Der Einzige, der wo mich retten kann.«
Der wo.
Giselle hätte »der« gesagt.
Sie war bereits tot. Sie war bereits tot gewesen, ehe er durch die Tür gekommen war. Doug blickte der jungen Frau aufmerksam ins Gesicht und erkannte den leicht glasigen Schimmer ihrer Augen, die leicht durchscheinende Dickflüssigkeit der Träne, die über ihre zerschnittene Wange gelaufen war. Giselle war irgendwann gestorben, vielleicht heute, vielleicht gestern, vielleicht am Tag davor, und der Postbote hatte sie hierbehalten, um sie als Köder zu benutzen. Er wusste, dass Doug schließlich kommen würde, und er wusste, dass Doug nicht fähig sein würde, die junge Frau sterben zu lassen. Der Postbote hatte sie benutzt, indem er den toten Körper mit aller Kraft, die ihm verblieben war, bewegt und zum Sprechen gebracht hatte.
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