»Ja«, erwiderte Howard, »aber ich sehe ihn nicht sehr oft. Sie wissen sicher, wie das ist. Ich bin kein junger Bursche mehr. Ich gehe eher zu Bett als er und wache später auf. Mein Lebensstil und seiner passen nicht gut zusammen.«
»Und wie ist er so?«
Trish kam ins Zimmer und stellte ein Tablett mit Käsecrêpes auf den kleinen Tisch zwischen ihnen. »Ich bin gleich mit dem Champagner wieder da«, sagte sie sanft. Sie fixierte Doug mit einem strengen, vielsagenden Blick, während sie sich vom Postchef abwandte, doch Doug tat so, als bemerkte er es nicht.
Sie nahmen beide einen Crêpe. »Mmm«, sagte Howard und genoss mit geschlossenen Augen den Geschmack. »Das ist eines der Dinge, die ich vermisse, seit Murial weg ist - gute Küche. Irgendwann hat man Tiefkühlkost und Hotdogs satt.«
»Kochen Sie denn nicht?«, fragte Trish, während sie den beiden Champagner servierte.
»Ich versuche es, aber erfolglos.«
Trish lachte auf und ging in die Küche zu ihrem eigenen Glas Champagner zurück.
»Wie ist er denn so?«, fragte Doug noch einmal. »Er stellt die Post jedenfalls ziemlich früh zu. Bob kam immer um Mittag herum. Jetzt ist die Post schon da, wenn wir gefrühstückt und ein bisschen aufgeräumt haben.«
»John fängt wirklich früh an. Wenn ich aufstehe, ist er normalerweise schon weg. Gegen elf ist er mit der ganzen Runde fertig, und er bleibt bis vier.« Howard nahm sich noch einen Crêpe und steckte ihn in den Mund. »Er hat noch keine Stechkarte abgegeben - die ist erst diese Woche fällig -, aber wenn er es tut, muss ich mir mal ansehen, wie viele Stunden er aufschreibt. Er soll eigentlich nicht mehr als acht Stunden arbeiten, aber ich glaube, es sind eher zehn oder elf.«
»Finden Sie nicht auch, dass er ein bisschen merkwürdig ist?«, fragte Doug. »Ich meine, warum trägt er die Post so wahnsinnig früh aus?«
Trish schoss einen weiteren wütenden Blick über Howards Kopf ab, bevor sie sich neben ihn setzte.
»Ja, stimmt, John kann einem ein bisschen seltsam erscheinen. Aber er macht seine Arbeit gut und erledigt alles, was anfällt. Und er ist immer bemüht, sogar noch mehr zu tun. So was sieht man heute nicht oft. Ich könnte mir keinen besseren Boten wünschen.«
Doug nickte. Howards Worte waren voll des Lobes, doch in seiner Stimme lag ein seltsamer Unterton. Es war, als ob er Worte wiederholte, die er eingeübt hatte; als ob er etwas sagte, was er sagen wollte, ohne tatsächlich so zu empfinden. Zum ersten Mal, seit sie Howard kannten, glaubte Doug, dass er heuchelte, dass er ihnen bloß etwas vormachte. Dougs Blick traf über den Tisch hinweg Trishs, und er sah, dass auch sie es bemerkt hatte.
Doch Trish weigerte sich, dieses Gesprächsthema weiter zu verfolgen, und geschickt lenkte sie die Unterhaltung auf etwas weniger Persönliches.
Das Abendessen war ausgezeichnet. Billy war heruntergekommen, hatte sich genommen, was er wollte, und sich wieder ins Obergeschoss verzogen. Die drei Erwachsenen aßen am Tisch und genossen das Essen in aller Ruhe: Cobb-Salat, gebratenes Roastbeef in Weinsauce, serviert mit Backkartoffeln mit einer Füllung aus saurer Sahne und Schnittlauch. Dazu hatte Trish ihr selbst gemachtes Brot gebacken, dick und warm und weich, das nach kurzer Zeit verschwunden war.
Howard lächelte. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so gut gegessen habe.«
»Ich auch nicht«, sagte Doug.
»Genieße es, solange du kannst«, warnte ihn Trish. »Das war alles an rotem Fleisch für diesen Monat.«
»Meine Frau steht auf gesunde Ernährung«, erklärte Doug. »Wir sind eine sehr gesundheitsbewusste Familie.«
»Du kannst auch jede Unterstützung gebrauchen, die du kriegen kannst. Wenn du ein bisschen mehr Sport treiben würdest, könnten wir es uns erlauben, ein wenig nachsichtiger zu sein. Aber du hast eine rein sitzende Lebensweise. Deshalb kann ich nur darauf achten, dass du wenigstens vernünftig isst.«
Howard kicherte.
Billy kam mit seinem Geschirr herunter, lächelte den Postchef scheu an und verschwand dann wieder nach oben. Sie tranken den Rest des Champagners, und Trish brachte Howard und Doug ein Bier. Sie selbst trank Eiswasser.
Im Verlauf der Mahlzeit wurde die Unterhaltung ernster und weniger oberflächlich, und es war Howard, der das Thema anschnitt. »Ich frage mich, warum Bob das getan hat«, sagte er, schaute dabei auf den Teller und schob die leere Kartoffelschale mit der Gabel hin und her. »Das ist das Einzige, was ich beim besten Willen nicht verstehe. Warum hat er das getan?« Er blickte auf und sah Trish mit roten Augen an, doch seine Stimme war ruhig. »Sie kannten Bob. Er war ein gelassener Busche, der nichts an sich herankommen ließ. Er mochte seine Arbeit, liebte seine Familie, hatte ein gutes Leben. Und nichts hatte sich geändert. Es gab keine große Katastrophe, keinen Todesfall, nichts, was ihn in den Abgrund getrieben hätte. Wenn ihn irgendwas bedrückt hätte, hätte er es mir erzählt.« Seine Stimme zitterte leicht, und er räusperte sich. »Ich war sein bester Freund.«
Trish legte ihre Hand auf seine. »Ich weiß«, sagte sie leise.
Howard wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und zwang sich, nicht den Tränen nachzugeben. »Ellen wird nur schwer damit fertig. Es ist schlimmer, als ich gedacht hätte. Sie schien eine so starke Frau zu sein.« Er lächelte traurig. »Bob nannte sie immer ›den Felsen‹.« Ohne es zu merken, fummelte er an seiner Serviette herum. »Sie stand unter starken Medikamenten, als ich sie kürzlich besucht habe. Der Arzt gibt ihr ... ich weiß gar nicht was alles. Er sagt, es ist die einzige Möglichkeit, sie ruhig zu stellen. Die Jungs müssen sich um alles kümmern, aber man merkt, dass auch sie an ihre Grenzen gekommen sind. Sie haben Fragen, genauso wie ich, und es gibt einfach keine Antworten.«
Doug hatte plötzlich ein Bild von den beiden Jungen vor sich, wie sie jeden Morgen aufwachten und beide in derselben Badewanne duschten, in der ihr Vater sich den Schädel weggeblasen hatte, wie sie ihre Seife aus derselben Seifenschale nahmen, in der sein Blut gestanden und Teile seines zersplitterten Schädels gelegen hatten. Er fragte sich, wie Ellen badete, ohne daran zu denken, was sie in der Wanne gesehen hatte.
»Das wird schon wieder«, sagte Trish.
»Er fehlt mir«, platzte Howard heraus. »Bob fehlt mir.« Er atmete tief ein; dann sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. »Ich weiß nicht mehr, was ich mit meinen Samstagabenden anfangen soll. Ich weiß nicht, wen ich um Rat fragen oder wem ich einen Rat geben oder mit wem ich wo hingehen soll oder ... verdammt!«
Er brach in Tränen aus.
Nach dem Abendessen setzten sie sich auf die Veranda. Es war schwül; Regen lag in der Luft. Fledermäuse, flatternde Schatten in der Dunkelheit, flogen in den beleuchteten Kreis, den die Straßenlaterne erzeugte, und wieder hinaus. Von weiter unten an der Straße erklangen die knisternden, elektrischen Geräusche eines Insektenvernichters, der seine Opfer auf der Stelle grillte.
»Als wir klein waren, haben wir immer Fledermäuse geangelt«, sagte Doug geistesabwesend. »Wir haben ein Blatt oder etwas anderes auf einen Angelhaken gesteckt und die Schnur dann in der Nähe einer Straßenlampe in die Luft geworfen. Ihr ›Radar‹ sagt den Fledermäusen, dass es ein Insekt ist, also stürzen sie sich darauf. Wir haben nie eine gefangen, aber ein paar Mal waren wir dicht dran.« Er kicherte. »Ich weiß nicht, was wir gemacht hätten, hätten wir wirklich eine erwischt.«
»Man tut dummes Zeug, wenn man klein ist«, sagte Howard. »Ich erinnere mich, dass wir mit Schrotflinten auf Katzen geschossen haben. Nicht nur auf wilde oder streunende Katzen. Auf alle Katzen.« Er trank sein letztes Bier aus. »Jetzt fällt es mir schwer, mich daran zu erinnern, dass ich mal so grausam war.«
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