Den Teller mit ihrem Abendessen in der einen Hand, eine Flasche Evian in der anderen, ging Nora durch den Flur im Erdgeschoß. Daß in allen Zimmern Licht brannte, empfand sie als beruhigend. Im Obergeschoß angelangt, drückte sie mit dem Ellbogen den Schalter für die Korridorbeleuchtung. Sie würde nächstens eine Menge Glühbirnen bestellen, weil sie vorhatte, in Zukunft Tag und Nacht alle Lichter brennen zu lassen. Diese Kosten nahm sie gern auf sich.
Immer noch vom Cognac in Stimmung gehalten, begann sie leise zu singen, während sie ihrem Zimmer zustrebte: »Moon River, wider than a mile ...«
Sie trat durch die Tür. Streck lag auf dem Bett.
Er grinste und sagte: »Tag, Baby.«
Einen Augenblick lang hielt sie es für eine Halluzination. Aber als er sprach, wußte sie, daß es Wirklichkeit war. Sie schrie auf, der Teller entfiel ihrer Hand, so daß Obst und Käse sich auf den Boden verstreuten.
»Ach, du meine Güte, was du anrichtest«, sagte er, setzte sich auf und schwang die Beine über den Bettrand. Er trug immer noch seine Turnhosen, Socken und Laufschuhe. Nichts sonst. »Aber du brauchst das jetzt nicht sauberzumachen. Zuerst ist da anderes zu erledigen. Ich warte schon die längste Zeit, daß du raufkommst. Dabei hab' ich an dich gedacht... mich auf dich eingestimmt...« Er stand vor ihr. »Und jetzt ist Zeit, dir beizubringen, was du nie gelernt hast.«
Nora war unfähig, sich zu bewegen. Unfähig zu atmen.
Er mußte direkt vom Park zu ihrem Haus gegangen, mußte vor ihr eingetroffen sein. Er hatte sich gewaltsam Zugang verschafft und keine Spur eines Einbruchs hinterlassen, hatte die ganze Zeit, während sie in der Küche Cognac trank, hier auf dem Bett auf sie gewartet. Daß er hier oben wartete, war noch unheimlicher als alles, was er bislang getan hatte - er hatte gewartet, sich am Vorgefühl des Kommenden aufgegeilt, seinen Nervenkitzel daran gehabt, sie unten herumhantieren zu hören, ohne daß sie von seiner Anwesenheit wußte.
Ob er sie töten würde, wenn er mit ihr fertig war?
Sie drehte sich um und rannte hinaus auf den Korridor. Als sie an der Treppe die Hand auf das Geländer legte und hinunterlaufen wollte, hörte sie Streck hinter sich.
Sie hetzte die Treppe hinunter, nahm zwei oder drei Stufen auf einmal, in panischer Angst, sie könnte sich den Knöchel verstauchen und stürzen. Am Treppenabsatz versagte beinahe das Knie ihr den Dienst, sie stolperte, rannte aber weiter, sprang die letzten Stufen ins Erdgeschoß.
Dann packte Streck sie von hinten, riß sie an der Schulterpartie ihres Kleides herum, so daß sie ihn ansehen mußte.
Als Travis vor dem Haus Nora Devons an den Randstein heranfuhr, stand Einstein auf dem Vordersitz, die beiden Vorderpfoten auf dem Türgriff, drückte mit seinem ganzen Gewicht hinunter und öffnete die Tür. Wieder so ein Trick. Er sprang aus dem Wagen, preschte den Zugang hinauf, noch ehe Travis die Handbremse gezogen und den Motor abgeschaltet hatte.
Sekunden später erreichte Travis die Treppe zur Veranda, gerade rechtzeitig, um festzustellen, daß sich der Retriever unterm Vordach des Eingangs auf die Hinterbeine erhoben hatte und mit einer Vorderpfote die Klingel betätigte. Man konnte es drinnen läuten hören.
Travis stieg die Stufen hinauf und sagte: »Was, zum Teufel, ist jetzt in dich gefahren?«
Der Hund klingelte erneut.
»Gib ihr doch eine Chance ...«
Als Einstein das dritte Mal den Klingelknopf drückte, hörte Travis einen Mann aus Wut und Schmerz schreien. Dann den Hilferuf einer Frau.
Mit einem ebenso wütenden Bellen wie gestern im Wald scharrte Einstein an der Tür, als glaubte er wirklich, er könnte sich auf die Weise Zugang verschaffen.
Travis preßte das Gesicht an die Tür und spähte durch ein klares Feld im Mosaikfenster. Der Korridor war hell erleuchtet, und er konnte zwei Leute sehen, die nur ein paar Meter von ihm entfernt miteinander rangen.
Einstein bellte, knurrte, drehte langsam durch.
Travis versuchte, die Tür zu öffnen, fand sie versperrt. Er schlug mit dem Ellbogen ein paar der Farbglasscheiben ein, griff hinein, tastete nach dem Schloß, fand es und auch die S-cherheitskette und stand im Flur, als der Kerl in Turnhosen die Frau beiseite stieß und sich zu ihm herumdrehte.
Einstein gab Travis keine Chance zu handeln. Der Retriever jagte durch den Korridor geradenwegs auf den Mann zu.
Der Bursche reagierte so, wie jeder reagiert, wenn ihm ein Hund von der Größe Einsteins anging; Er rannte. Die Frau versuchte ihm ein Bein zu stellen, er stolperte, fiel aber nicht. Am Ende des Korridors stieß er eine Schwingtür auf und verschwand.
Einstein raste an Nora Devon vorbei, erreichte im vollen Lauf die immer noch hin und her schwingende Tür, hatte den Zeitpunkt genau berechnet, denn er schoß durch die Öffnung, als die Tür eben nach innen schwang. Im Raum dahinter -der Küche, nahm Travis an - war Bellen, Knurren und Schreien zu hören. Etwas fiel krachend zu Boden, dann folgte ein noch lauterer Krach. Der Mann fluchte, Einstein gab ein bösartiges Geräusch von sich, daß es Travis eisig über den Rücken lief, und der Lärm wurde noch schlimmer.
Er ging zu Nora Devon. Sie lehnte am Treppengeländer.
»Sind Sie okay?« fragte er.
»Er hätte fast... fast...«
»Aber er hat nicht«, vermutete Travis.
»Nein.«
Er berührte das Blut an ihrem Kinn. »Sie sind verletzt.«
»Sein Blut«, sagte sie, als sie es an Travis' Fingerspitzen sah. »Ich habe den Dreckskerl gebissen.« Sie schaute zur Pendeltür, die jetzt zur Ruhe gekommen war. »Lassen Sie nicht zu, daß er dem Hund weh tut.«
»Höchst unwahrscheinlich«, sagte Travis.
Der Lärm ließ nach, als Travis die Schwingtür aufstieß. Zwei Stühle waren umgefallen. Eine große, blaugeblümte Keramikkeksdose lag in Scherben auf dem Fliesenboden, Hafermehl-plätzchen waren im Raum verteilt, einige ganz, einige zerbrochen, einige zerdrückt. Der Mann saß in einer Ecke, die nackten Beine angewinkelt, die Hände schützend vor der Brust gekreuzt. Einer der Schuhe des Mannes fehlte, Travis vermutete, daß der Hund ihn an sich gebracht hatte. Die rechte Hand des Mannes blutete, anscheinend Nora Devons Werk. Außerdem blutete er an der linken Wade; bei dieser Wunde schien es sich um einen Hundebiß zu handeln. Einstein bewachte ihn, außer Reichweite eines Tritts, aber bereit, sofort zuzuschnappen, falls der Bursche so unvernünftig sein sollte, seinen Platz zu verlassen. »Saubere Arbeit«, sagte Travis, zum Hund gewendet.
»Wirklich, sehr saubere Arbeit.«
Einstein gab einen winselnden Ton von sich, der andeutete, daß er das Lob akzeptierte. Als Streck aber eine Bewegung machte, ging das zufriedene Winseln sofort in ein Knurren über. Einstein schnappte nach dem Mann, der in seine Ecke zurückwich.
»Sie sind erledigt«, sagte Travis zu ihm.
»Er hat mich gebissen! Beide haben mich gebissen.« Beleidigte Wut. Erstaunen. Unglauben. »Mich gebissen.«
Wie viele Schläger, die ihr ganzes Leben lang andere drangsaliert hatten, erschütterte diesen Mann die Entdeckung, daß man auch ihm weh tun, ihn schlagen konnte. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß die Leute immer klein beigaben, wenn man sie genügend terrorisierte und vor ihnen den bösen Mann spielte. Er hatte geglaubt, er könne nie verlieren. Jetzt war er bleich und sah aus, als stünde er unter Schock.
Travis ging ans Telefon und rief die Polizei an.
Als Vincent Nasco am Vormittag des 20. Mai von seinem eintägigen Urlaubsaufenthalt in Acapulco zurückkehrte, kaufte er sich am Flughafen von Los Angeles die Times, ehe er den Zubringerbus - sie nannten es zwar eine Limousine, aber es war ein Bus - nach Orange County nahm. Während der Fahrt zu seinem Reihenhaus in Huntington Beach las er die Zeitung und entdeckte auf Seite drei den Bericht über den Brand in den Banodyne Laboratories in Irvine.
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