Jetzt erforschte Vince den Regenwald rings um die Lichtungen, wo Haines lag, und fand einen umgestürzten Baum, von dem er ein loses, leicht gebogenes Stück Borke nehmen konnte, das sich als Schöpfer eignen würde. Er fand einen von Algen durchzogenen kleinen Wasserlauf und schöpfte fast einen Liter Wasser in das Behelfsgefäß. Das Zeug sah faulig aus und wimmelte wahrscheinlich von allen möglichen exotischen Bakterien. Aber zu diesem Zeitpunkt war die Gefahr, Haines könnte sich irgendeine Krankheit zuziehen, für diesen bereits ohne Belang.
Vince schüttete Haines den ersten Schöpfer Wasser ins Gesicht. Eine Minute darauf kam er mit einem zweiten, den er den Doktor auszutrinken zwang. Nach viel Prusten, Würgen und nachdem er sich übergeben mußte, hatte Haines endlich einen genügend klaren Kopf, um zu verstehen, was man zu ihm sagte, und darauf auch verständlich zu antworten.
Vince zeigte Haines der Reihe nach den Totschläger, den Ta-ser und den Korkenzieher und erklärte, wie er die einzelnen Geräte einsetzen würde, falls Haines unkooperativ sein sollte. Der Doktor - Gehirnphysiologe nach eigener Aussage - ließ keinen Zweifel offen, daß seine Intelligenz stärker ausgeprägt war als sein Patriotismus, und enthüllte eifrig jedes Detail des streng geheimen Militärprojekts, an dem er bei Banodyne arbeitete.
Als Haines schwor, daß es jetzt nichts mehr zu sagen gäbe, bereitete Vince das Natrium-Pentothal vor. Als er die Injektionsspritze aufzog, sagte er im Gesprächston: »Doktor, wie ist das eigentlich mit Ihnen und den Frauen?«
Haines, der mit den Armen am Körper im Moos lag, genau so, wie Vince es ihm befohlen hatte, schaffte es nicht, sich auf den plötzlichen Themawechsel einzustellen. In Verwirrung kamen seine Lider in rasche Bewegung.
»Ich verfolge Sie jetzt seit dem Mittagessen und weiß, daß Sie in Acapulco drei davon an der Leine haben ...«
»Vier«, sagte Haines, und trotz des Schreckens, der ihm im Magen saß, kam dabei ein Hauch von Stolz zum Vorschein. »Dieser Mercedes, den ich fahre, gehört Giselle, der süßesten Kleinen... «
»Sie benutzen den Wagen einer Frau, um sie mit drei anderen zu betrügen?«
Haines nickte, versuchte ein Lächeln, zuckte aber zusammen, als neue Schmerzwellen durch seine eingedroschene Nase jagten. »Das war immer... meine Methode bei den Ladys.« »Um Himmels willen!« Vince war erschüttert. »Ist Ihnen nicht klar, daß wir nicht mehr die sechziger oder siebziger Jahre haben? Die freie Liebe ist tot. Die hat jetzt einen hohen Preis, einen sehr hohen. Haben Sie noch nichts von Herpes oder AIDS und all dem Zeug gehört?« Während er ihm die Spritze mit dem Pentothal verabreichte, sagte er: »Sie haben bestimmt jede Geschlechtskrankheit, die der Mensch kennt.« Haines blinzelte ihn blöde an, wirkte zuerst verblüfft und sank dann in tiefen Pentothal schlaf. Unter dem Einfluß der Droge bestätigte er Vince alles, was er ihm bereits über Bano-dyne und das Francis-Projekt gesagt hatte.
Als die Wirkung des Mittels nachließ, schloß Vince den Ta-ser an, nur so, zum Spaß, bis die Batterien verbraucht waren. Der Wissenschaftler zuckte und schlug aus wie ein halbzerdrückter Wasserkäfer und wühlte Absätze, Kopf und Hände tief ins Moos.
Als der Taser nicht mehr zu gebrauchen war, schlug Vince Haines mit dem Totschläger bewußtlos und tötete ihn dann, indem er den Korkenzieher zwischen zwei Rippen ansetzte und schräg in das schlagende Herz bohrte.
Ssssnappp.
Grabesstille hing über dem Regenwald, und doch fühlte Vince, wie tausend Augen ihn beobachteten, die Augen wilder Geschöpfe. Und er glaubte, daß die verborgenen Beobachter billigten, was er Haines angetan hatte, weil die Art und Weise, wie der Wissenschaftler lebte, ihn zu einer Beleidigung für die natürliche Ordnung der Dinge machten - jener natürlichen Ordnung, der alle Geschöpfe des Dschungels gehorchten.
Er sagte »Danke!« zu Haines, küßte den Mann aber nicht, weder auf den Mund noch auf die Stirn. Haines' Lebensenergie war ebenso belebend und willkommen wie die irgendeines anderen Opfers, aber sein Körper und sein Geist waren unrein.
Nora ging vom Park auf dem kürzesten Wege nach Hause. Die Abenteuerstimmung und das Gefühl der Freiheit, die den Morgen und den frühen Nachmittag in bunte Farben getaucht hatten, ließen sich nicht wieder einfangen. Streck hatte den Tag beschmutzt.
Nachdem sie die Haustür hinter sich zugemacht hatte, versperrte sie das gewöhnliche Schloß, schob den Riegel vor und hängte die Sicherheitskette ein. Dann ging sie durch die Zimmer im Erdgeschoß und zog an sämtlichen Fenstern die Gardinen zu, damit Arthur Streck, falls er kommen und um das Haus streichen sollte, nicht hereinsehen könne. Aber die Dunkelheit, die dadurch entstand, war ihr unerträglich, deshalb schaltete sie in jedem Zimmer jede Lampe ein. In der Küche ließ sie die Jalousien herunter und überprüfte auch das Schloß an der hinteren Tür.
Ihre Begegnung mit Streck hatte sie nicht nur in Schrecken versetzt, sondern in ihr auch das Gefühl hinterlassen, schmutzig zu sein. Sie wünschte sich jetzt mehr als alles andere eine lange, heiße Dusche.
Aber ihre Beine waren plötzlich zitterig und schwach, und ein Schwindelanfall überkam sie. Sie mußte sich am Küchentisch festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Wenn sie jetzt versuchte, die Treppe ins Obergeschoß hinaufzugehen, würde sie fallen, das wußte sie; also setzte sie sich, verschränkte die Arme auf dem Tisch, legte den Kopf darauf und wartete, bis sie sich besser fühlte.
Als der ärgste Schwindel vorüber war, erinnerte sie sich an die Flasche Cognac in der Anrichte neben dem Kühlschrank und fand, daß ein Schluck davon ihr jetzt guttun würde. Sie hatte den Cognac, einen Remy Martin, gekauft, nachdem Violet gestorben war, weil Violet keinerlei alkoholische Getränke duldete, die stärker waren als leicht vergorener Apfelmost. In einem Akt des Aufbegehrens hatte Nora sich ein Glas Cognac eingeschenkt, als sie vom Begräbnis ihrer Tante nach Hause kam. Sie hatte kein Vergnügen daran gehabt und den größten Teil davon in den Ausguß geschüttet. Aber jetzt schien es, als würde ein Schluck ihr helfen, das Zittern loszuwerden.
Zuerst ging sie an den Ausguß und wusch sich die Hände, so heiß sie es ertragen konnte, zuerst mit Seife, dann mit Ivory-Spülmittel, um jede Spur von Streck wegzuschrubben. Als sie fertig war, waren ihre Hände rot und wundgerieben.
Sie nahm die Cognacflasche und ein Glas mit zum Tisch.
Sie hatte Romane gelesen, in denen sich die Akteure mit einer Flasche Schnaps und ihrer Verzweiflung hinsetzten, fest entschlossen, erstere zu benutzen, um letztere wegzuspülen. Für die Romanfiguren funktionierte das manchmal, also würde es vielleicht auch bei ihr funktionieren. Wenn Cognac ihren Gemütszustand bloß um einen Hauch verbesserte, war sie bereit, die ganze verdammte Flasche auszutrinken.
Aber zur Säuferin war sie nicht geboren. Sie verbrachte die nächsten zwei Stunden damit, an einem einzigen Glas Remy Martin zu nippen.
Wenn sie versuchte, ihre Gedanken von Streck abzuwenden, plagten sie gnadenlos die Erinnerungen an Tante Violet, und wenn sie versuchte, nicht an Violet zu denken, führte sie das gleich wieder zu Streck. Wenn sie sich zwang, beide aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen, dachte sie an Travis Cornell, den Mann im Park, und sich mit ihm zu befassen, verschaffte ihr auch keine innere Ruhe. Er hatte nett auf sie gewirkt, sanft, höflich, besorgt, und er hatte es zuwege gebracht, daß Streck sie in Ruhe ließ. Aber wahrscheinlich war er genauso schlimm wie Streck. Ließ man ihm auch nur die geringste Chance, Cornell würde sie ebenso zu nutzen versuchen wie Streck. Tante Violet war ein Tyrann gewesen, krank und verdreht, aber mehr und mehr schien es, daß sie bezüglich der Gefahren des Umgangs mit anderen Leuten recht gehabt hatte.
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