Aber der Schmerz war nicht das Schlimmste. Am schlimmsten war es, in Strecks erschreckende eisblaue Augen sehen zu müssen. Während er ihre Finger zusammenpreßte, hielt er sie nicht nur mit der Hand fest, sondern auch mit seinem Blick der kalt und unendlich fremd war. Er versuchte sie einzuschüchtern, ihr Angst zu machen, und es funktionierte - weiß Gott, das tat es -, weil sie in ihm einen Wahnsinn sah, dem sie nie gewachsen sein würde.
Als er ihre Verzweiflung sah, die ihm offenbar mehr Vergnügen bereitete als ein Schmerzensschrei, hörte er auf, ihre Hand zu quetschen, ließ sie aber nicht los. »Dafür wirst du mir bezahlen«, sagte er, »dafür, daß du mir ins Gesicht gespuckt hast. Und du wirst es genießen, dafür zu bezahlen.«
Ohne rechte Überzeugung sagte sie: »Ich werde mich bei Ihrem Chef beschweren, und dann verlieren Sie bestimmt Ihren Job.«
Streck lächelte nur. Nora fragte sich, warum er keine Anstalten machte, sich die Plätzchenreste aus dem Gesicht zu wischen. Aber während sie noch darüber nachdachte, wurde ihr der Grund klar: Er würde sie dazu zwingen, es zu tun. Doch vorher sagte er: »Meinen Job verlieren? Aach, ich hab' die Stellung bei Wadlow TV schon aufgegeben. Gestern nachmittag habe ich Schluß gemacht. Um für dich Zeit zu haben, Nora.« Sie senkte die Augen. Sie konnte ihre Furcht nicht verbergen, war so geschüttelt von Furcht, daß sie glaubte, ihre Zähne würden zu klappern anfangen.
»Ich bleib' nie besonders lang in einer Stellung. Ein Mann wie ich, voll Energie, langweilt sich leicht. Ich muß in Bewegung bleiben. Außerdem ist das Leben zu kurz, um es einzig und allein mit Arbeit zu vergeuden, meinst du nicht auch? Also behalt' ich einen Job eine Zeitlang, bis ich etwas Geld gespart habe, und dann lass' ich mich, solang es geht, treiben.
Hier und da stoße ich dabei auf eine Lady wie dich, eine, die mich dringend braucht, eine, die geradezu nach einem Mann wie mir schreit, und dann helf ich ein wenig aus.«
Gib ihm einen Tritt, beiß ihn, kratz ihm die Augen aus, dachte sie.
Sie tat nichts.
Ihre Hand schmerzte dumpf. Der brennende, durchdringende Schmerz von vorhin fiel ihr ein.
Seine Stimme änderte sich, wurde weich, einschmeichelnd, besänftigend, aber das machte ihr noch mehr Angst. »Und ich helf dir aus, Nora. Ich werde für eine Weile bei dir einziehen.
Es wird uns Spaß machen. Du bist meinetwegen noch ein wenig nervös, sicher, das versteh' ich, echt, das versteh' ich. Aber glaub' mir, du brauchst das, Mädchen. Es wird dein ganzes Leben verändern, nichts wird mehr so sein wie früher, und das ist das beste, was dir passieren konnte.«
Einstein liebte den Park.
Als Travis ihm die Leine abnahm, trottete der Retriever zum nächsten Blumenbeet - große, gelbe Ringelblumen, umgeben von purpurfarbenen Polyantharosen - und umkreiste es langsam, sichtlich fasziniert. Dann ging er an ein Beet mit spätblühenden Ranunkeln, danach zu einem mit Vergißmeinnicht, und sein Schweif wedelte bei jeder Entdeckung schneller. Es hieß immer, Hunde könnten nur Schwarz und Weiß erkennen, aber Travis hätte nicht wetten mögen, Einstein könne nicht alle Farben sehen. Der Hund beschnüffelte alles - Blumen, Sträucher, Bäume, Steine, Abfalleimer, den Sockel eines Wasserspeiers und jeden Fußbreit Boden, über den er ging -, dabei zweifellos Geruchs>bilder< von Menschen und Hunden aufnehmend, die vorher hier vorbeigekommen waren, Bilder, so klar, wie es für Travis Fotografien gewesen wären.
Während des ganzen Vormittags und auch des frühen Nachmittags hatte der Retriever nichts Außergewöhnliches getan. Tatsächlich war sein Ich-bin-nur-ein-ganz-gewöhnlicher-dummer-Hund-Verhalten so überzeugend, daß Travis sich fragte, ob die nahezu menschliche Intelligenz des Tieres etwa nur in kurzen Schüben auftrete, ähnlich epileptischen Anfällen. Nach allem, was gestern geschehen war, stand Einsteins Außergewöhnlichkeit, auch wenn sie sich nur selten offenbarte, jedenfalls nicht mehr zur Debatte.
Während sie um den Teich schlenderten, erstarrte Einstein plötzlich, hob den Kopf, stellte seine Schlappohren ein wenig auf und starrte ein Paar an, das etwa zwanzig Meter entfernt auf einer Parkbank saß. Der Mann trug Turnhosen, die Frau ein sackartiges graues Kleid; er hielt ihre Hand, und sie schienen ins Gespräch vertieft.
Travis wollte sich wieder von ihnen abwenden und in die Richtung der weiten Grünflächen gehen, um sie nicht zu stören.
Aber Einstein bellte einmal und rannte geradenwegs auf das Paar zu.
»Einstein! Hierher! Komm sofort zurück!«
Der Hund beachtete ihn nicht, näherte sich dem Paar und begann wütend zu bellen.
Als Travis die beiden erreichte, war der Mann in Turnhosen aufgestanden. Er hielt abwehrend die Arme von sich gestreckt und die Hände geballt, während er sich vorsichtig einen Schritt von dem Retriever zurückzog.
»Einstein!«
Der Retriever hörte zu bellen auf, wich Travis aus, ehe der die Leine wieder an seinem Halsband einhaken konnte, ging zu der Frau auf der Bank und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Der Wechsel vom knurrenden Hund zum Schoßhündchen erfolgte so plötzlich, daß alle verblüfft waren.
Travis sagte: »Es tut mir leid. Er hat noch nie ...«
»Herrgott«, sagte der Mann in Turnhosen, »Sie können doch einen bissigen Hund nicht einfach frei im Park herumlaufen lassen!«
»Er ist nicht bissig«, sagte Travis. »Er...«
»Blödsinn«, sagte der Mann so heftig, daß dabei Speichel flog. »Das verdammte Biest hat versucht, mich zu beißen. Sie haben wohl Spaß daran, angezeigt zu werden, oder?«
»Ich weiß nicht, was in ihn gefah ... «
»Schaffen Sie ihn weg von hier! » verlangte der Mann in Turnhosen.
Verlegen nickend wandte Travis sich zu Einstein um und sah, daß die Frau den Retriever auf die Bank gelockt hatte. Einstein saß jetzt neben ihr, die Augen ihr zugewendet, die Vorderpfoten auf ihrem Schoß, und sie streichelte ihn nicht nur, sondern drückte ihn an sich. Die Art und Weise, wie sie sich an ihm festklammerte, sah in der Tat aus, als wäre der Hund eine Art Rettungsanker für sie.
»Sie sollen ihn von hier wegschaffen!« sagte der Mann wütend.
Der Bursche war höher, breiter in den Schultern und hatte größeren Brustkorbumfang als Travis, trat jetzt ein paar Schritte vor, so daß er Travis überragte, um ihn mit seiner überlegenen Größe einzuschüchtern. Seine aggressive Art, sein Blick und Benehmen, die wohl gefährlich aussehen sollten, ließen erkennen, daß er gewohnt war, sich durchzusetzen. Travis verachtete solche Leute.
Einstein drehte den Kopf herum und sah den Mann an, legte die Zähne frei und knurrte tief in der Kehle.
»Hören Sie, Kumpel«, sagte der Mann in Turnhosen ärgerlich. »Sie sind wohl taub, oder wie? Ich hab' gesagt, daß der Hund an die Leine gehört, und ich sehe, daß Sie da eine Leine in der Hand halten. Worauf, zum Teufel, warten Sie also?«
Travis begann zu erkennen, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Der rechtschaffene Zorn des Mannes war übertrieben
- so als hätte man ihn bei etwas Ungehörigem ertappt, als versuchte er seine Schuld zu überdecken, indem er sofort in die Offensive überging. Und die Frau benahm sich auch seltsam. Sie hatte kein Wort gesagt. Sie war totenbleich, ihre dünnen Hände zitterten. Wie sie den Hund streichelte und sich an ihn klammerte, war nicht Einstein es, der ihr Angst machte. Travis fragte sich, ob wohl ein Paar so unterschiedlich gekleidet in den Park gehen würde; er in Turnhosen, sie im faden Hauskleid. Er sah, wie die Frau dem Mann verstohlene, verängstigte Blicke zuwarf, und plötzlich wußte er, daß diese beiden nicht zusammengehörten; zumindest nicht nach Ansicht der Frau - und daß der Mann tatsächlich Anlaß zu Schuldgefühlen hatte.
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