Zweifels wußte, daß er auf dem Olymp angekommen war, war es am besten, etwas vorsichtig zu sein.
Banodyne.
Das Francis-Projekt.
Wenn das, was Hudston gesagt hatte, stimmte, würde das Risiko, das Vince jetzt einging, belohnt werden, sobald er den richtigen Käufer für die Information fand. Er würde ein reicher Mann sein.
Wes Dalberg lebte seit zehn Jahren allein in einer Steinhütte ganz oben im Holy Jim Canyon am Ostrand des Orange County. Seine einzigen Lichtspender waren Petroleumlampen, das einzige Fließwasser kam aus einer Handpumpe am Küchenausguß. Die Toilette befand sich etwa dreißig Meter hinter der Hütte, in einem freistehenden Aborthäuschen mit einem -wohl als Scherz gedachten - in die Tür geschnitzten Halbmond.
Wes war zweiundvierzig, sah aber älter aus. Sein Gesicht war vom Wind blankgescheuert, von der Sonne gegerbt. Er trug einen sauber gestutzten Bart mit einer Menge weißer Strähnen. Obwohl älter aussehend, hatte er die Konstitution eines Fünfundzwanzigjährigen. Den beneidenswerten Gesundheitszustand schrieb er seinem Leben inmitten der Natur zu.
Am Abend des 18. Mai, eines Dienstags, saß er im silbrigen Licht einer zischenden Petroleumlampe bis ein L'hr morgens am Küchentisch, nippte immer wieder an selbstgemachtem Pflaumenwein und las einen Roman der McGee-Serie von John D. MacDonald. Wes war, wie er das selbst ausdrückte, >ein asozialer Brummbär, der im falschen Jahrhundert zur Welt gekommen ist< und der mit der modernen Gesellschaft wenig anzufangen wußte. Aber über McGee las er gerne, denn McGee schwamm dort draußen in jener chaotischen, häßlichen Welt und ließ nie zu, daß die mörderischen Strömungen ihn forttrugen.
Als er mit dem Buch um ein Uhr fertig war, ging Wes hin-aus, um Holz für seinen Kamin zu holen. Die vom Wind bewegten Zweige der Sykomoren warfen dünne Mondschatten, und die glatten Flächen der raschelnden Blätter leuchteten schwach im fahlen Widerschein des Mondlichts. Kojoten heulten in der Ferne, wahrscheinlich damit beschäftigt, einen Feldhasen oder anderes Kleingetier zu jagen. In der Nähe sangen die Insekten im Gebüsch, und ein kühler Wind seufzte durch das obere Geäst.
Sein Vorrat an Holzscheiten war in einem Anbau gelagert, der die ganze Nordseite seiner Hütte einnahm. Er zog den Bolzen aus dem Schließband der Doppeltür. Er war so vertraut mit der Anordnung der Scheite im Lagerschuppen, daß er im Finstern seine massive Tragmulde aus Blech mit einem halben Dutzend Scheite füllte. Er trug die Tragmulde mit beiden Händen hinaus, stellte sie nieder und drehte sich um, um die Türen zuzumachen.
Jetzt fiel ihm auf, daß die Kojoten und Insekten alle verstummt waren. Nur der Wind besaß noch seine Stimme.
Mit gerunzelter Stirn drehte er sich um und blickte zum finsteren Wald, der die kleine Lichtung umgab, auf der seine Hütte stand.
Etwas knurrte.
Wes musterte mit zusammengekniffenen Augen das nachtdunkle Gehölz, das plötzlich vom Mond weniger beleuchtet schien als noch vor einem Augenblick.
Es war ein tiefes, zorniges Knurren. Nie hatte er in den zehn Jahren, die er hier lebte, in seinen einsamen Nächten Ähnliches vernommen.
Wes war neugierig, sogar etwas besorgt, hatte aber keine Angst. Er stand reglos da und lauschte. Eine Minute verstrich, und er hörte nichts mehr.
Er schloß die Türen des Anbaus, schob dann den Bolzen durch die Öse und nahm die Tragmulde mit den Holzscheiten auf.
Wieder das Knurren. Dann Stille. Und dann das Geräusch von trockenem Strauchwerk und Blättern, knirschend, knisternd, unter Tritten brechend.
Die Art des Geräuschs ließ auf eine Entfernung von vielleicht fünfundzwanzig Metern schließen, ein Stück westlich von dem Abort. Noch im Wald.
Wieder knurrte das Ding, lauter diesmal. Und auch näher. Keine zwanzig Meter entfernt.
Den Verursacher des Geräuschs sah er noch immer nicht.
Der abtrünnige Mond versteckte sich weiterhin hinter einem schmalen, zarten Wolkenband.
Während er auf das dumpfe, kehlige und doch klagende Knurren lauschte, wurde Wes plötzlich unbehaglich zumute. Zum erstenmal in den zehn Jahren, die er jetzt am Holy Jim wohnte, hatte er das Gefühl, sich in Gefahr zu befinden. Den Holzträger auf den Armen, ging er mit schnellen Schritten in Richtung Hinterseite der Hütte und Küchentür.
Das Rascheln von bewegten Zweigen wurde lauter. Das Geschöpf im Gehölz bewegte sich jetzt schneller. Zum Teufel, es rannte.
Wes rannte auch.
Das Knurren steigerte sich zum bösartigen Schnauben: eine gespenstische Mischung aus Lauten, die teils Hund, teils Schwein, teils Puma, teils Mensch und zu einem Teil etwas ganz anderes zu sein schienen. Es war ihm dicht auf den Fersen.
Während er um die Ecke der Hütte hetzte, schwang Wes die Tragmulde und warf sie dorthin, wo er das Tier vermutete. Er hörte die Scheite fliegen und am Boden aufprallen, hörte, wie der Metallträger sich ein paarmal überschlug, aber das Knurren rückte nur näher und wurde lauter, also wußte er, daß er sein Ziel verfehlt hatte.
Er rannte die drei Stufen hinauf, riß die Küchentür auf, trat ein und knallte die Tür hinter sich zu. Er schob den Riegel vor - eine Sicherheitsmaßnahme, die er seit neun Jahren nicht mehr ergriffen hatte, nicht, seitdem er sich an die Ruhe im Canyon gewöhnt hatte.
Er ging durch die Hütte zur vorderen Tür und verriegelte auch diese. Die Heftigkeit, mit der die Furcht ihn überfallen hatte, überraschte ihn. Selbst wenn dort draußen ein bösartiges Tier war - ein tollwütiger Bär vielleicht, der aus den Bergen heruntergekommen war -, konnte es keine Türen öffnen und ihm in die Hütte folgen. Es bestand keine Notwendigkeit, die Riegel vorzuschieben, und doch fühlte er sich jetzt, da er es getan hatte, sicherer. Ein Instinktverhalten war das, und er verstand sich gut genug auf das Leben in der Wildnis, um zu wissen, daß man den Instinkten vertrauen sollte, selbst wenn sie zu scheinbar irrationalem Verhalten führten.
Okay. Er war also in Sicherheit. Kein Tier konnte eine Tür öffnen. Ein Bär sicherlich nicht, und höchstwahrscheinlich war es ein Bär.
Aber es hatte nicht wie ein Bär geklungen. Das war es, was so geisterhaft gewesen war. Es hatte wie nichts von dem geklungen, was in jenen Wäldern zu Hause sein konnte. Er war mit den Lebewesen der Nachbarschaft vertraut, kannte all die Rufe, Schreie und anderen Laute, die sie von sich gaben.
Das einzige Licht im vorderen Zimmer kam vom offenen Kamin, und es reichte nicht, die Schatten aus den Ecken zu vertreiben. Gebilde, die der Flammenschein erzeugte, huschten über die Wände. Zum erstenmal hätte Wes es begrüßt, Elektrizität zu haben.
Er besaß eine Remington-Schrotbüchse, mit der er gelegentlich auf Jagd ging, um Abwechslung auf seinen Speisezettel zu bringen und nicht ausschließlich von im Laden gekauften Lebensmitteln abhängig sein zu müssen. Sie lag auf einem Gestell in der Küche. Er überlegte, ob er die Schrotflinte herunterholen und laden sollte; aber jetzt, wo er sich hinter verschlossenen Türen sicher wußte, begann es ihm peinlich zu werden, daß er in Panik geraten war. Wie ein Greenhorn, weiß Gott. Wie ein fettärschiger Vorstadtbewohner, der beim Anblick einer Feldmaus zu kreischen anfing. Hätte er bloß einen Schrei ausgestoßen und in die Hände geklatscht, er würde das Ding in den Büschen wahrscheinlich verscheucht haben.
Selbst wenn seine Reaktion dem Instinkt angelastet werden konnte, hatte er sich jedenfalls nicht dem Bild entsprechend verhalten, das er sich von sich selbst machte: dem des hartgesottenen Canyonbewohners. Wenn er sich jetzt ohne zwingende Notwendigkeit mit der Flinte bewaffnete, kostete ihn das den Großteil seiner Selbstachtung, die für ihn wichtig war: Denn die einzige Meinung über Wes Dalberg, die bei Wes zählte, war die, die er selbst von sich hatte. Nein, die Schrotflinte blieb in der Küche.
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