Über sie nachzudenken wäre Zeitvergeudung gewesen. Aber jetzt...
Wenn sie anderen Fußgängern begegnete, hielt sie den Kopf gesenkt und wandte das Gesicht ab, wie sie das früher immer getan hatte. Aber nach einer Weile fand sie die Courage, einige von ihnen anzusehen. Sie war überrascht, als viele ihr zulächelten und »Hallo« sagten. Und nach einer Weile hörte sie sich zu ihrer noch größeren Überraschung sogar den Gruß erwidern.
Als sie das Gerichtsgebäude erreichte, blieb sie stehen, um die gelben Yucca-Blüten und die fetten roten Bougainvilleen zu bewundern, die an der rauh verputzten Mauer emporkletterten und sich oberhalb eines der hohen Fenster durch das kunstvoll geschmiedete Eisengitter wanden.
An der 1815 erbauten Mission von Santa Barbara blieb sie am Fuße der Eingangstreppe stehen und betrachtete die hübsche Fassade der alten Kirche. Dann schlenderte sie durch den Hof mit seinem heiligen Garten und bestieg schließlich den westlichen Glockenturm.
Langsam begann sie zu begreifen, weshalb Santa Barbara in einigen der vielen Bücher, die sie gelesen hatte, als einer der schönsten Orte der Welt bezeichnet wurde. Fast ihr ganzes Leben hatte sie hier verbracht. Weil sie sich aber mit Violet im Haus verkroch, und wenn sie einmal ausgingen, wenig mehr gesehen hatte als die Spitzen ihrer Schuhe, nahm sie die Stadt jetzt zum erstenmal wahr. Und das erregte und beglückte sie. Um ein Uhr setzte sie sich im Alameda-Park auf eine Bank in der Nähe dreier uralter, riesiger Dattelpalmen mit Blick auf den Teich. Ihre Füße begannen zu schmerzen, aber sie hatte nicht vor, bald nach Hause zurückzukehren. Sie öffnete ihre Tüte und begann ihr Mittagessen mit dem gelben Apfel. Noch nie hatte etwas auch nur annähernd so köstlich geschmeckt. Weil sie Hunger hatte, aß sie gleich darauf die Orange, warf die Schale in die Tüte und war gerade im Begriff, ins erste Haferflockenplätzchen zu beißen, als Art Streck sich neben sie setzte.
»Hallo, Hübsche.«
Er trug nur blaue Turnhosen, Laufschuhe und dicke weiße Wollsocken. Offensichtlich war er nicht gelaufen, denn er schwitzte nicht. Er war muskulös, mit breitem Brustkasten
und tiefgebräunt und wirkte sehr männlich. Seine Kleidung diente einzig und allein dem Zweck, seinen athletischen Körper zur Schau zu stellen, und so wandte Nora sofort die Augen ab.
»Schüchtern?« fragte er.
Sie konnte nicht sprechen, weil der Bissen von dem Haferflockenplätzchen ihr im Mund steckengeblieben war. Sie brachte auch keinen Speichel zuwege. Sie fürchtete zu erstik-ken, wenn sie versuchte, das Plätzchen zu schlucken, aber sie konnte es nicht einfach ausspucken.
»Meine süße, schüchterne Nora«, sagte Streck.
Nach unten blickend, sah sie, wie heftig ihre rechte Hand zitterte. Das Plätzchen zerbröckelte zwischen ihren Fingern zu Krümeln, die auf das Pflaster zwischen ihren Füßen hinunterfielen.
Sie hatte sich gesagt, dieser Spaziergang, der den ganzen Tag dauern sollte, sei ein erster Schritt zur Befreiung, jetzt aber mußte sie sich eingestehen, daß es noch einen anderen Grund gegeben hatte, das Haus zu verlassen: Strecks Annäherungsversuchen aus dem Weg zu gehen. Sie hatte Angst gehabt, zu Hause zu bleiben, Angst, er werde immer wieder anrufen. Jetzt hatte er sie im Freien gefunden, außerhalb des Schutzes ihrer verriegelten Fenster und versperrten Türen.
Und das war noch viel schlimmer als das Telefon, unendlich schlimmer.
»Sieh mich an, Nora!«
»Nein.«
»Sieh mich an!«
Das letzte Stück des sich auflösenden Plätzchens entfiel ihrer rechten Hand.
Streck nahm ihre linke Hand, sie versuchte ihm Widerstand zu leisten, aber er drückte zu, quetschte ihre Fingerknochen zusammen, und so gab sie nach. Er legte ihre Hand mit der Handfläche nach unten auf seinen nackten Schenkel. Sein Fleisch war fest und heiß.
Ihr wurde übel, ihr Herz schlug wie wild, sie wußte nicht, ob sie sich zuerst übergeben oder in Ohnmacht fallen würde. Ihre Hand langsam auf seinem nackten Oberschenkel hin und her schiebend, sagte er: »Ich bin genau das, was du brauchst. Hübsche. Ich kann's dir besorgen.«
Das Haferflockenplätzchen verklebte ihr den Mund, als wäre es aufgequollene Paste. Sie behielt den Kopf unten, hob aber die Augen, um unter gesenkten Wimpern hervorzuschauen. Sie hoffte jemanden in der Nähe zu entdecken, den sie zu Hilfe rufen konnte, aber da waren nur zwei junge Mütter mit ihren kleinen Kindern, und auch die waren zu weit weg, um helfen zu können.
Jetzt nahm Streck ihre Hand von seinem Schenkel und legte sie auf seine nackte Brust. »Hast wohl einen hübschen Spaziergang gemacht, wie?« sagte Streck. »Hat dir die Mission gefallen? Wie? Und waren die Yucca-Blüten am Gerichtsgebäude nicht hübsch?«
Und so ging es in diesem lässigen, selbstzufriedenen Ton weiter. Er erkundigte sich, wie ihr andere Dinge gefallen hätten, und sie erkannte, daß er ihr den ganzen Morgen gefolgt war, in seinem Wagen oder zu Fuß. Sie hatte ihn nicht bemerkt, aber es gab keinen Zweifel, denn er wußte über jede ihrer Bewegungen seit Verlassen des Hauses Bescheid, und das ärgerte und erschreckte sie mehr als alles bisherige.
Sie atmete schnell und kräftig und hatte doch das Gefühl, ersticken zu müssen. In ihren Ohren dröhnte es, und doch konnte sie jedes seiner Worte nur zu deutlich hören. Sie dachte daran, nach ihm zu schlagen, ihm die Augen auszukratzen, und war doch wie gelähmt, nah daran, zuzuschlagen, aber unfähig, es zu tun, von Wut getrieben, zugleich von Furcht geschwächt. Sie wollte schreien, nicht um Hilfe, sondern im Gefühl ihrer Hilflosigkeit.
»Also«, sagte er, »jetzt hast du einen richtigen netten Spaziergang gemacht, im Park hübsch zu Mittag gegessen und bist entspannt. Weißt du, was jetzt nett wäre? Weißt du, womit du diesen Tag krönen kannst. Hübsche? Einen besonderen Tag daraus machen kannst? Wir gehen jetzt zu meinem Wagen, fahren zu deinem Haus, gehen hinauf in dein gelbes Zimmer und steigen in dein Himmelbett... «
Er war in ihrem Schlafzimmer gewesen! Gestern. Als er im Wohnzimmer den Fernseher hätte reparieren sollen, mußte er sich nach oben geschlichen haben, dieser Schweinehund, und hatte den allerpersönlichsten Raum, den sie besaß, durchforscht, ihr Heiligtum betreten und in ihren Habseligkeitcn gewühlt.
»... in dieses riesige alte Bett. Und dann werd' ich dich ausziehen, Honey, nackt ausziehn und dich ficken ...«
Ob ihr plötzlicher Mut aus der schrecklichen Erkenntnis wuchs, daß er ihren Zufluchtsort entweiht hatte, oder daher kam, weil er zum erstenmal in ihrer Gegenwart ein obszönes Wort gebraucht hatte, oder aus beidem, hätte Nora nie sagen können. Aber ihr Kopf fuhr plötzlich in die Höhe, sie schaute ihn durchdringend an und spuckte ihm den Plätzchenklumpen mitten ins Gesicht. Speichelfäden und feuchte Teigmasse klebten an seiner rechten Wange, seinem rechten Auge und der Nase. Haferflockenstücke hingen in seinem Haar und an seiner Stirn. Als sie sah, wie die Wut seine Augen aurblitzen ließ und sein Gesicht verzerrte, spürte Nora eine Aufwallung von Schrecken über das, was sie getan hatte. Gleichzeitig war sie stolz darauf, daß sie imstande gewesen war, lähmende Fesseln zu zerreißen, selbst wenn das, was sie getan hatte, ihr Leid einbringen sollte, selbst wenn Streck zurückschlug,
Und er schlug zurück, schnell und brutal. Er hielt immer noch ihre linke Hand fest, und Nora war außerstande, sich loszureißen. Er drückte zu, wie er das schon einmal getan hatte quetschte ihre Knochen gegeneinander. Es tat weh, Herrgott es tat weh. Aber sie wollte ihm nicht die Genugtuung verschalten, sie weinen zu sehen, war fest entschlossen, weder zu betteln noch zu wimmern. Also biß sie die Zähne zusammen und erduldete den Schmerz. Schweiß trat aus ihrer Kopfhaut, einen Augenblick lang dachte sie, ohnmächtig zu werden.
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