Da sie von ihrem Haus, wo Travis seinen Pick-up abgestellt hatte, zu Fuß zum Cafe gegangen waren, gingen sie den Weg zurück jetzt ebenfalls zu Fuß, und Nora hielt die ganze Zeit über die Hundeleine. Einstein versuchte kein einziges Mal, sich von ihr zu entfernen, verwickelte kein einziges Mal ihre Beine in die Hundeleine, sondern trottete immer neben oder vor ihr einher, lammfromm, hier und da mit so rührenden Augen zu ihr aufsehend, daß sie lächeln mußte.
»Ein braver Hund ist das«, sagte sie.
»Sehr brav«, pflichtete Travis ihr bei.
»So gesittet.«
»Ja, meistens.«
»Und so klug.«
»Sie sollten ihm nicht zu sehr schmeicheln.«
»Haben Sie Angst, er könnte eitel werden?«
»Eitel ist er bereits«, sagte Travis. »Wenn er um eine Spur eitler wird, ist er nicht mehr auszuhalten.«
Der Hund wandte sich um, sah Travis an und schnaubte laut, als wollte er sich über die Bemerkung lustigmachen.
Nora lachte. »Manchmal scheint es fast, als könnte er jedes Wort verstehen, das Sie sagen.«
»Manchmal«, pflichtete Travis ihr bei.
Als sie das Haus erreichten, wollte Nora ihn hineinbitten.
Aber sie hatte Angst, er könnte das mißverstehen. Sie wußte, sie benahm sich damit wie eine nervöse alte Jungfer, wußte, daß sie ihm vertrauen konnte - und sollte; aber plötzlich ragte Tante Violet in ihrer Erinnerung vor ihr auf, voll finsterer Warnungen in bezug auf Männer, und sie brachte es einfach nicht über sich, das zu tun, von dem sie wußte, daß es richtig war. Der Tag war perfekt gewesen, sie hatte Angst, ihn weiter auszudehnen, aus Furcht, etwas würde geschehen, das die Erinnerung beschmutzte. Also dankte sie ihm für die Einladung und wagte es nicht einmal, ihm die Hand zu reichen.
Aber sie beugte sich hinunter und drückte den Hund an sich. Einstein rieb seine Schnauze an ihrer Wange und leckte ihr einmal über den Hals, so daß sie kichern mußte. Sie hatte sich noch nie kichern hören. Sie hätte sich stundenlang an ihn drücken und ihn streicheln können, wenn das nicht ihre Scheu vor Travis noch deutlicher geoffenbart hätte.
Unter der offenen Tür stehend, blickte sie ihnen nach, wie sie in den Pick-up stiegen und wegfuhren.
Travis winkte ihr zu.
Sie winkte auch.
Dann hatte der Wagen die Ecke erreicht und begann nach rechts abzubiegen, kam außer Sicht, und Nora bedauerte ihre Feigheit, wünschte, sie hätte Travis kurz ins Haus gebeten.
Fast wäre sie ihnen nachgerannt, hätte fast seinen Namen gerufen. Aber dann war der Wagen fort, und sie war wieder allein. Zögernd ging sie ins Haus und schloß die Tür vor der helleren Welt dort draußen.
Der Diensthubschrauber vom Typ Bell JetRanger strich über die von Bäumen bestandenen Schluchten und kahl werdenden Kämme der Santa-Ana-Vorberge hinweg. Sein Schatten war ihm voraus, weil die Sonne im Westen stand, und der Freitagnachmittag zu verblassen begann. Als sie sich dem Holy Jim Canyon näherten, sah Lemuel Johnson zum Fenster des Passagierabteils hinaus und entdeckte vier Patrouillenwagen des Bezirkssheriffs, die sich dort unten entlang des schmalen Feldweges aufgereiht hatten. Ein paar weitere Fahrzeuge, darunter der Kombi des Leichenbeschauers und ein Jeep Cherokee, der wahrscheinlich dem Opfer gehörte, parkten neben der Steinhütte. Der Pilot hatte kaum genug Raum, um den Helikopter auf der Lichtung aufzusetzen. Noch bevor das Motorengeräusch verstummte und die von der Sonne bronzefarben getönten Rotoren sich langsamer drehten, war Lem herausgesprungen und eilte auf die Hütte zu. Cliff Soames, sein engster Mitarbeiter, folgte ihm auf den Fersen.
Walt Gaines, der Bezirkssheriff, trat aus der Hütte, als Lem nah heran war. Gaines war ein Hüne, einen Meter neunzig groß und wenigstens neunzig Kilo schwer, mit enormen Schultern und einem mächtigen Brustkasten. Mit dem maisgelben Haar und den kornblumenblauen Augen hätte er wie ein Kinoheld aussehen können, wenn nicht das derbe Gesicht und die groben Züge gewesen wären. Er war fünfundfünfzig, sah aus wie vierzig und trug sein Haar nur eine Spur länger, als er es während der zwanzig Jahre bei der Marineinfanterie getragen hatte.
Obwohl Lem Johnson Neger war, genauso dunkel wie Walt hellhäutig, nahezu zwanzig Zentimenter kleiner und fünfundzwanzig Kilo leichter als Walt, obwohl aus einer schwarzen Familie der gehobenen Mittelklasse stammend, während Walts Leute weißes Armeleutepack aus Kentucky waren, und obwohl Lem um zehn Jahre jünger war als der Sheriff, waren die beiden Freunde. Mehr als das, Kumpel. Sie spielten zusammen Bridge, gingen zusammen tiefseefischen und genossen es königlich, auf Liegestühlen im Garten des einen oder des anderen zu sitzen, Corona-Bier zu trinken und sämtliche Probleme der Welt zu lösen. Selbst ihre Frauen waren Freundinnen geworden, eine rein zufällige Entwicklung, die nach Walts Meinung >ein Wunder< war, weil, wie er sagte, »die Frau noch nie jemanden gemocht hat, den ich ihr in den letzten zweiunddreißig Jahren vorgestellt habe«.
Für Lem war seine Freundschaft mit Walt Gaines ebenfalls ein Wunder, denn er war nicht der Mann, der leicht Freunde gewann. Er war ein Arbeitstier und hatte einfach nicht die Muße, eine Bekanntschaft zu pflegen und eine länger dauernde Beziehung daraus zu machen. Natürlich hatte es dieser Pflege bei Walt nicht bedurft; sie waren sich bei der ersten Begegnung sympathisch gewesen, hatten ähnliche Ansichten und Gesichtspunkte beim anderen entdeckt. Als sie einander sechs Monate lang kannten, schien es, als wären sie sich seit ihrer Kinderzeit nahegestanden. Lem war ihre Freundschaft fast so wichtig, wie seine Ehe mit Karen. Die Last seines Berufes wäre schwerer zu ertragen gewesen, hätte er nicht gelegentlich bei Walt etwas Dampf ablassen können.
Als jetzt die Rotorblätter des Hubschraubers verstummten, sagte Walt Gaines: »Ich kann mir nicht vorstellen, was euch Feds [1] Fed: Slangbezeichnung für Beamte einer Bundesbehörde (>Federal<). -Anm. d. Ü.
an einem knorrigen alten Canyonbewohner interessiert.«
»Gut«, sagte Lem. »Erwartet auch keiner von dir, und du willst es auch gar nicht wissen.«
»Jedenfalls hab' ich bestimmt nicht damit gerechnet, daß du selbst kommst. Dachte, du würdest einen deiner Lakaien schicken.«
»NSA-Beamte haben es gar nicht gern, wenn man sie Lakaien nennt«, sagte Lem.
Walt warf Cliff Soames einen Blick zu und meinte: »Aber so behandelt er euch doch, oder? Wie Lakaien?«
»Er ist ein Tyrann«, bestätigte Cliff. Er war einunddreißig, rothaarig und sommersprossig und sah eher aus wie ein beflissener junger Prediger als wie ein Agent der National Security Agency.
»Nun, Cliff«, sagte Walt Caines, »dazu muß man natürlich wissen, wo Lern herkommt. Sein Vater war ein getretener schwarzer Geschäftsmann, der nie mehr als zweihunderttausend im Jahr verdiente. Unterprivilegiert, verstehen Sie? Deshalb bildet Lern sich ein, er muß euch weiße Boys durch Reifen hüpfen lassen, wenn er kann, um all die Jahre der brutalen Unterdrückung auszugleichcn.«
»Er verlangt sogar, daß ich >Massa< zu ihm sage«, grinste Cliff.
»Genauso hab' ich es mir vorgestellt«, sagte Walt.
Lem seufzte und meinte: »Ihr beiden macht mir ungefähr soviel Spaß wie ein Leistenbruch. Wo ist die Leiche?«
»Hier entlang, Massa«, sagte Walt.
Ein warmer Windstoß ließ die Bäume rundum erzittern, in die Stille des Canyons fiel das Wispern des Blattwerks. Der Sheriff führte Lem und Cliff in den ersten der beiden Räume der Hütte.
Lem wußte sofort, weshalb Walt so witzig tat. Der gezwungene Humor war die Reaktion auf das Schreckliche im Inneren der Hütte. Es war, wie wenn man nachts im Friedhof laut lacht, um die Nervosität zu verjagen.
Zwei Lehnsessel waren umgestürzt, die Polsterung aufgeschlitzt. Die Sofakissen waren zerfetzt, der weiße Schaumgummi bloßgelegt. Von einem Büchergestell in der Ecke waren Taschenbücher heruntergefegt, zerrissen und über den ganzen Raum verstreut worden. Glasscherben der großen Fensterscheibe glitzerten wie Edelsteine in all dem Durcheinander.
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