Auf der Suche nach seiner wasserfesten Minolta-Kamera durchwühlte Scott den gesamten Schrank des Fernsehzimmers. Schließlich fand er sie, noch immer in ihrer ursprünglichen Verpackung, hinter einem Satz unbenutzter Golfschläger. Seine beiden Frauen hatten ihm die kompakte, mit einem Plastikgehäuse verkleidete Kamera im letzten Jahr zu Weihnachten geschenkt Er hatte sie am ersten Weihnachtstag ausgepackt, einige Fotos von seinen Lieben vor dem geschmückten Baum gemacht und den Apparat gleich wieder weggepackt. Tatsächlich hatte er den Film immer noch nicht entwickeln lassen, die fast unbenutzte Filmrolle steckte noch im Gehäuse. Wie praktisch! So brauchte er keinen Film zu besorgen und konnte sich die Fahrt in die Stadt sparen.
Als er das Blitzlicht ausprobierte, stellte er fest, dass es noch funktionierte. Nach einem flüchtigen Blick in die Bedienungsanleitung eilte er wieder nach draußen. Kath begleitete ihn ein Stückchen.
»Was willst du damit?«, fragte sie und deutete auf die knallgelbe Kamera, die von seinem Handgelenk baumelte. »Ich muss da was unter dem Steg überprüfen.« Kath verzog das Gesicht. »Dad, hast du mir nicht gesagt, dass ich niemals da runtergehen soll? Ist das nicht gefährlich?«
»Nur für kleine Mädchen.«
Die Kamera fest an sich gedrückt, tauchte Scott erneut in den See, machte ein paar schnelle Stöße abwärts und wendete gleich darauf, um die Unterseite des Stegs zu untersuchen. Von hier unten aus, mit den Füßen über der Felsplatte schwebend, konnte er die vier verkrusteten Fässer und - trotz des trüben Lichts - sogar ihr engmaschiges Rippenmuster erkennen. Jetzt konnte er auch die Embleme mit den weißen Rosen ausmachen; sie waren ausgeblichen, aber unverkennbar die Markenzeichen der alten White-Rose-Ölbehälter. Das alles sah, soweit er sich erinnern konnte, der Zeichnung verdammt ähnlich. Allerdings konnte er von hier aus kein Beweisfoto schießen. Die Skizze war aus größerer Entfernung und tieferem Winkel gezeichnet gewesen.
Scott strampelte zurück zur Oberfläche, um tief Luft zu holen. Kath, die an der Leiter stand und zu ihm hinuntersah, kniff ihr kleines Gesicht besorgt zusammen. »Bleib nicht so lange da unten, okay?« »Okay, mein Schatz.«
Er kletterte auf den Anleger und winkte einem näher kommenden Motorboot zu. Bob Anderson und Fred Mills kehrten gerade von ihrer frühmorgendlichen Angeltour zurück. Mit stolzem Grinsen hielt Bob eine Schnur hoch, an der einige fett aussehende Hechte hingen. Mittlerweile kannte Scott ihre Gewohnheiten: Angeln von sieben bis elf, danach zu Bob nach Hause, um belegte Brote und Bier zu vertilgen, dann wieder raus bis vier Uhr nachmittags.
Mit der Kamera in der Hand und den Füßen voran schoss Scott wie ein Speer ins Wasser. Während er hinabsank, hörte er das sanfte Tuckern von Andersons kleinem Außenbordmotor. Innerhalb von Sekunden drang er bis zum Grund vor und landete auf der gleichen glitschigen Felsplatte wie zuvor, inmitten von brusthohen Algen. Scott gab sich alle Mühe, ihre Ekel erregenden Auswüchse zu ignorieren, und spähte stattdessen zum Steg hinauf.
Ja, bei Gott, da war es! Genau das Muster, das er am Vortag auf der Zeichnung gesehen hatte, das Muster, das die Erinnerung ausgelöst hatte: vier gerippte Fässer, die ausgeblichenen Rosen und die geschwungenen Linien. Die Linien waren nichts anderes als die Holzlatten des Stegs - von unten gesehen, verzerrt durch die kleinen Wellen an der Wasseroberfläche.
Scott richtete die Kamera darauf und schoss ein Foto. Im grellen Weiß des aufleuchtenden Blitzes wurde jedes Detail deutlich sichtbar.
Direkt hinter ihm verlief eine heimtückische Unterströmung und wuchs zu einem kalten Strom an, dessen Algen wie Tentakel über seinen Rücken strichen. Als sich ein langer Strang wie ein lose sitzender Gürtel um seine Taille legte, erschauerte Scott, teils wegen der eiskalten Unterströmung, vor allem aber wegen des widerlichen Gefühls, das dieses Seegras auf seiner Haut verursachte. Er duckte sich und machte sich bereit für den schnellen Aufstieg zurück zur Wasseroberfläche ...
In diesem Moment glitt er aus. Sein rechter Fuß rutschte ab. Der glitschige, von Algen überzogene Stein, auf dem er gestanden hatte, rollte ein Stückchen das steile Gefälle des Seebettes hinunter und prallte so gegen einen Felsbrocken, dass er Scotts Schienbein einklemmte.
Panisch, als habe ihn ein Blitzschlag getroffen, stierte Scott auf sein Bein. Als er lautlos aufschrie, entwich ein Teil der so kostbaren Luft und blubberte an die Oberfläche.
Zwar zerrte er so heftig an seinem Bein, dass ihm der Schmerz durch den Knöchel schoss, aber das Bein ließ sich nicht bewegen. Also versuchte er, den großen Felsbrocken wegzurollen, anfangs mit dem freien Fuß, danach mit den Händen, aber er musste dabei nach oben stoßen, und dazu war der Stein zu schwer.
Während sich weitere Algen um seine Brust, seine Arme, seine Beine schlangen, blieb Scott fassungslos und wie erstarrt stehen. Die kalte Unterströmung wurde noch kälter. Er zerrte nochmals an seinem eingeklemmten Bein, versuchte, irgendwie die Selbstbeherrschung zu bewahren. Noch war er nicht bereit, sich den Ernst der Lage einzugestehen. Er versuchte es mit dem anderen Fuß, drehte und zog, aber es war vergeblich. Sein Bein rührte sich nicht von der Stelle.
Und schließlich dämmerte ihm, wie ausweglos seine Lage war, und ihn packte das Entsetzen.
Mein Gott ich sitze wirklich fest!
Seine Hand ließ die Kamera los, die, sich immer wieder überschlagend, an die Oberfläche stieg. Wie im Totentanz wiegten sich Tentakeln aus Seegras in der Unterströmung hin und her ... berührten ihn, streiften ihn, wanden sich um ihn.
Hinter der Tauchermaske wurden Scotts Augen immer größer. Teufel noch mal!, fluchte sein Kopf in sinnloser Wut. Ich sitze fest! Mein Gott! Warum hab ich denn niemanden zur Sicherheit mitgenommen?
Der Drang nach Luft machte ihm den Hals so eng, als drücke ihm jemand die Kehle zu. Er kniete sich nieder, suchte nach einer Art Hebelkraft, umfasste sein Bein mit den Händen und stemmte es mit aller Kraft gegen den Untergrund, bis seine Muskeln sich verkrampften.
Aber er konnte sein Bein nicht befreien. Es war wie angewachsen, die Steine hielten es fest. Wieder zerrte er daran, bis die Anstrengung wie Feuer in seinen Sehnen brannte. Da, endlich gewann er einige Zentimeter, so dass er sein Bein bis zur Hälfte der Wade befreien konnte — wenn auch auf Kosten einiger sich ablösender Hautfetzen.
Scott spürte eine Welle der Erleichterung. Nur noch einmal kräftig ziehen und dann würde er frei sein ...
Doch sein nächster Ruck bewirkte überhaupt nichts, im Gegenteil: Der Stein verlagerte sich erneut und presste sich noch fester gegen die Mauer aus Felsblöcken.
Der Drang nach Luft wurde zunehmend körperlich spürbar - unmöglich, dagegen anzugehen. Scott war klar, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis er seinen Rachen zwangsläufig aufreißen und das Seewasser einatmen würde.
Dunkelheit legte sich um ihn und trübte sein Sichtfeld. Mitten in dieser Dunkelheit stieg ein grausames Bild in ihm auf: Er sah die abgekauten Gliedmaßen eines Tieres vor sich, das sich in einer Falle wand. Erneut schob sich Scott vor und zurück - nicht nur, weil er sich vom Seegrund lösen wollte, sondern auch, weil er dieses Bild loswerden wollte. Er lehnte sich gegen die Felsbrocken, benutzte die Ferse als Keil und drückte sich mit Macht dagegen. Aber der Fels war zu glatt, sein Fuß rutschte abermals ab, wobei er sich den Ballen stieß. Er versuchte es noch einmal, ohne den geringsten Erfolg.
Vor Angst wie gelähmt, starr vor Schreck, hing er regungslos dort unten im Wasser. Und wieder bahnte sich Luft aus seinen Lungen den Weg nach draußen, stieg in kleinen Blasen an die Oberfläche. Vergeudete Luft.
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