Ich hoffe, Sie haben alles wieder an Ort und Stelle, Sheriff, dachte er, und als die Dunkelheit anfing, sich zu drehen, stieß er die Klinge in McClanes Brust.
Selbst auf den Knien im Kohlewagen konnte Sam sehen, wie die Helligkeit aus den mit bunten Bibelszenen versehenen Glasfenstern in die Morgenluft hinausgeschleudert wurde. Eine Säule aus weißem Licht brach nach oben durch den Turm in den Himmel und stieß einen breiten, leuchtenden Strahlenspeer in die wolkenlose Weite. Die alten Bretter knarrten, schlugen gegeneinander und bebten. Energie zitterte und zuckte zwischen ihnen heraus wie ein pulsierender Megawatt-Sturm. Es war, als hätte sich gerade eine Art stille, wohltätige Explosion ereignet.
An diesem Punkt hörte Sam auf zuzusehen. Er wurde abgelenkt, weil die Dämonen vor ihm Rauch ausstießen und ihre Musketen auf den Boden des Kohlenwagens fallen ließen. Der letzte von ihnen brach mit einem heulenden Schrei aus Wut und Bestürzung zusammen, die schwarze Substanz verflüchtigte sich wirbelnd aus Mund und Nase.
Die verlassenen Körper der Besessenen lagen kreuz und quer durcheinander. Einige erwachten stöhnend, verwirrt und aus Wunden blutend, welche die Dämonen ihnen zugefügt hatten. Andere Körper, wie der von Sarah Rafferty, blieben reglos liegen.
Dean konnte Tommy nicht nur schreien hören, er konnte es spüren . Der Jäger hatte sich darauf vorbereitet, dass der Dämon sterben würde, doch die gleichzeitige Rückkehr der Schlinge an ihren angestammten Ruheort schien die Reaktion noch zu verstärken. Die dämonische Essenz floh nicht einfach aus McClanes Körper, sie explodierte.
Er hörte ein lautes, feuchtes POP! , spürte einen Luftzug an Wangen und Stirn, und der Druck an seinem Hals war verschwunden.
Einfach so.
Dean krümmte sich. Seine Haut war mit etwas Kaltem, Klebrigen bespritzt, als hätte jemand einen mit Hustensaft gefüllten Ballon direkt vor seiner Nase platzen lassen. Der Gestank war ihm wohlbekannt, faulig und übelkeiterregend – ein Geruch aus dem Höllenschlund.
Dann explodierte die Dunkelheit.
Die Haare in Deans Nacken richteten sich auf, ebenso die auf seinen Armen. Das betäubende Knistern von Ozon erfüllte die Luft. Sein erster spontaner Gedanke war, dass er von einem Blitz getroffen worden war, und er begann, so schnell es ging, zurückzukriechen.
Der Lichtsturm breitete sich überall um ihn herum aus. Er blitzte in breiten, donnernden Strahlen durch den Altarraum, während Dean durch die Öffnung kroch, den Mittelgang entlangrannte und durch die Vordertür ins Freie stürmte.
Sam sah, wie sein Bruder auf die Treppe zulief, mit einem einzigen Satz heruntersprang und auf dem Gehweg landete. Dann wirbelte Dean herum und konnte gerade noch sehen, wie die letzten Lichtstrahlen in der Ersten Pfingstkirche von Mission’s Ridge abebbten.
Als es vorbei war, drehte er sich um, hob den Kopf und sah die Main Street hinunter. Rauchsäulen schwebten über einigen Gebäuden. Sie kamen zweifelsohne von einer Anzahl Feuer, die an verschiedenen Stellen der Stadt brannten.
Überall verstreut waren die ehemaligen Wirtskörper der Dämonen zu sehen. Sie hingen aus Fenstern heraus oder lagen mit ausgestreckten Armen und Beinen auf den Dächern. Sam beobachtete, wie einige anfingen, sich zu rühren, während andere schon versuchten aufzustehen oder ihre Wunden mit den Händen bedeckten. Trümmer lagen überall auf den Gehsteigen, ebenso Glasscherben und zerfetzte Markisen. Über der Stadt hing eine Schicht schmutziger Luft, die aber bereits anfing, sich aufzulösen. Autoalarmanlagen hupten und heulten.
„Sammy?“
Sam kletterte mit Sarahs Leiche auf den Armen vom Kohlenwagen herunter.
„Es tut mir leid“, sagte Dean. „Wo ist der Sheriff?“
Dean deutete mit dem Kopf zurück in Richtung Kirche. Sirenen erhoben sich jetzt über die Kakophonie der Autoalarmanlagen. Sam konnte sich vorstellen, dass bereits Bundesagenten, Regierungsangestellte, Fernsehreporter, die State Police – jedenfalls mehr Anzugträger und Uniformierte, als man sich überhaupt vorstellen konnte —hierher unterwegs waren. Sie würden sich auf Mission’s Ridge stürzen und die Stadt in ein brummendes Wespennest aus Fragen und Anschuldigungen verwandeln.
„Das wollen wir uns nicht geben“, sagte er.
„Na ja“, sagte Dean. „Ich werde Sheriff Daniels nicht im Stich lassen.“
„Der Impala ist auf dem Abschleppplatz zwei Blocks entfernt.“
Bei der Aussicht, sein Auto wiederzubekommen, hellte sich Deans Miene auf. „Ich werde ihn holen.“
„Ich gehe mal den Sheriff suchen.“ Sam legte Sarahs Leiche ab, drehte sich um und ging auf die Kirche zu.
Währenddessen öffnete sich quietschend die Kirchentür, und Sam sah, wie Sheriff Daniels nach draußen ins Licht trat. Ihr Gesicht war gerötet, beinahe wie bei einem Sonnenbrand, ihre Augen leuchteten hell und klar.
„Geht es Ihnen gut?“, fragte er.
Sie sah zu ihm herunter und erkannte ihn im ersten Moment nicht. Dann blickte sie auf die zerstörten Straßen ihrer Stadt und ihre Mitbürger – jene, die tot waren, und jene, die gerade wieder zu Bewusstsein kamen und sich aus ihren Verstecken hervortrauten.
„Ja.“ Ihre Stimme klang, als wäre sie ganz weit weg. „Sind sie fort …?“
Sam nickte. Er konnte das wohlbekannte Grollen des Impala-Motors näher kommen hören. Eine Sekunde später fuhr der Wagen um die Kurve und hielt am Bordstein. Dean öffnete die Tür und stieg aus. Sheriff Daniels stand da und betrachtete die beiden.
„Ich glaube, keiner von uns war vollkommen ehrlich zum anderen“, sagte Dean.
„Das glaube ich auch nicht.“
„Mein Bruder und ich …“, begann Sam und brach mitten im Satz ab, weil er nicht wusste, was er sagen solle. „Wir sind hergekommen, weil wir gehört haben, dass es hier Dämonenaktivitäten gibt. Wir sind Jäger.“
Der Sheriff nickte.
„Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Mein Job – mein wahrer Job als Hüter der Schlinge – ist nicht einfach. Viele in meiner Familie haben ihr Leben dafür gegeben. Manchmal im wörtlichen Sinne.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin es nicht gewohnt, dass mir jemand hilft.“
Sam sah Sarahs Leiche an.
„Ich wünschte, wir hätten mehr tun können.“
„Ich hätte Sie wahrscheinlich nicht gelassen“, sagte Daniels. „Ich bin es gewohnt die Einzige zu sein, die wirklich weiß, was vor sich geht. Aber es kann schwierig werden, alle zu beschützen, wenn man niemandem trauen kann.“
Die Worte schienen besonders bei Dean einen deutlichen Eindruck zu hinterlassen.
„Ja“, sagte er. „Das verstehe ich.“ Und dann, während er zurück zum Auto blickte, fügte er hinzu: „Wir sollten uns auf den Weg machen.“
Daniels nickte.
„Mein Großvater hat immer gesagt, dass es eine Zeit für Scheinwerfer und eine für Rückspiegel gibt.“ Sie hielt inne. „Wenn Sie Ihren Freund wiedersehen, richten Sie ihm bitte aus, dass ich hoffe, dass er findet, was er sucht.“
Sam nickte. Er und Dean kletterten in den Impala. Daniels stand am Bordstein und sah zu, wie sie davonfuhren.
Nach dem Ende des Bürgerkriegs verfolgte die Welt den langwierigen Wiederaufbau des Südens anhand von Zeitungsartikeln, Augenzeugenberichten und Telegrammen. Vielleicht war es daher nur angemessen, dass Sam und Dean Winchester den Wiederaufbau von Mission’s Ridge im Fernsehen beobachteten. Sie befanden sich im Wartezimmer des St. Mary’s Medical Centers in Athens, Georgia.
Deans größter Wunsch – der, dass das Essen in der Cafeteria des Krankenhauses wenigstens annehmbar sein würde – ging in Erfüllung. Sie blieben fast vier Tage.
Mission’s Ridge war auf jedem Fernsehkanal zu sehen, ob lokal oder national. Die Stadt stand immer noch in Flammen, sowohl bildlich gesprochen als auch wörtlich. Im Schatten der Ereignisse diskutierten Ermittler und Medien, was passiert war, und kauten dabei alles von Bio-Terrorismus über Massenhalluzinationen bis hin zu religiöser Hysterie durch. Die üblichen Verdächtigen an Analysten, Krisenexperten und Fachleuten wurden vor die Kamera geschleift, um einen Kommentar abzugeben.
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