Dean sah es nicht einmal. Er hatte seine Augen fest auf die Kirche gerichtet, auf die Treppe, die Eingangstür.
Noch zwei Blocks.
Sie kamen näher.
Mach dich bereit!
„Sam!“, schrie er.
Als Dean erneut die Bremse zog, war sein Bruder bereits durch den Kohlenwagen unterwegs in Richtung Flachwagen.
„Nimm den Sheriff mit!“, brüllte Sam zurück. „Ich bleibe hier und halte sie so lange wie …“
Der Rest des Satzes blieb Sam in der Kehle stecken, als seine Füße gegen etwas Weiches stießen. Als er auf die Leiche auf dem Boden des Kohlenwagens starrte, überkam ihn das Gefühl, dass sich ein riesiges Loch in seiner Magengrube auftat, es war, als würde er plötzlich ins Bodenlose fallen.
Der Körper von Sarah Rafferty lag bewegungslos zu seinen Füßen, ihre nach oben verdrehten Augen waren glasig. Eine Kugel hatte sie in die Brust getroffen und einen kleinen roten Fleck auf der Bluse zwischen ihren Brüsten hinterlassen. Er war nicht größer als ein Silberdollar. Der Fleck unter ihrem Körper war viel größer. Sam merkte erst jetzt, dass er mitten in einer Blutlache stand.
„Oh nein …“ Dean schüttelte den Kopf. „Ist sie …?“
Sam sah seinen Bruder an. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Als er endlich ein Wort herausbrachte, klang seine Stimme so, als ob sie nicht ihm gehörte.
„Geh!“ Er stieg über Sarah Raffertys Leiche hinweg, ging zum Gatling-Geschütz und berührte Sheriff Daniels am Arm. „Sie haben die letzte Windung der Schlinge?“
Sie hielt sie hoch.
„Hier ist sie.“
„Gehen Sie mit Dean!“
Daniels trat zurück, und Sam nahm ihren Platz ein. Er griff nach der blutbeschmierten, glitschigen Kurbel der Waffe und drehte sie schnell. Aus dem Augenwinkel sah er Daniels und Dean vom Zug abspringen und zwischen den Säulen vor der Kirche entlanghasten. Dann rannten sie die Stufen hinauf. Zwei Dämonen sprangen hinter einer Säule hervor. Sam nahm sie aufs Korn, pustete sie in Stücke. Dean und der Sheriff verschwanden in der Kirche.
Sam ließ den Hebel des Gewehrs los, kniete sich neben Sarah und zog sie, so weit es ging, in den Schutz des Kohlenwagens. Von überall her war das Prasseln des Kugelhagels zu hören.
Sam legte seine Hand auf Sarahs Hals, um den Puls zu fühlen. Sie war noch warm – es war erst einen Moment her.
Er konnte nichts fühlen.
„Er ist irgendwo hier drinnen“, flüsterte Daniels. „Ich kann es fühlen.“
Sie durchquerten den Altarraum, und der Hartholzboden knarrte unter ihren Füßen. Daniels Stimme klang sehr leise inmitten des riesigen, höhlenartigen Kirchenschiffs. Das Licht fiel durch die buntgetönten Glasfenster auf ihr Gesicht und zauberte eine Abfolge ständig wechselnder Stimmungen darauf. Dean folgte ihr, ging leise an den leeren Bankreihen entlang, die sich bis kurz vor den Altar zogen. Er fühlte nichts außer Schmerz und Müdigkeit. Und ihm war merkwürdig kalt. Es war unnatürlich kühl unter der hohen Bogendecke, als ob ein konservierter Rest des Winters hier drinnen auf sie gewartet hätte.
„Hier durch“, sagte der Sheriff mit leiser Stimme.
Sie blieb vor der Kanzel stehen. Eine hohe Plattform aus Eichenholz ragte vor ihnen fast fünf Meter in die Höhe. Daniels ließ ihre Finger über eine Ecke gleiten, fand, was sie suchte und drückte. Das Klicken eines Mechanismus ertönte, als ob sich etwas entkoppelte, und die Verkleidung der Kanzel öffnete sich. Sie gab den Blick auf eine dunkle, rechteckige Öffnung frei, die ziemlich staubig aussah.
Daniels bückte sich, kroch hinein und war verschwunden. Dean hörte, wie sie sich fortbewegte und wünschte, dass er eine Taschenlampe dabeihätte.
Dann verschluckte ihn die Dunkelheit.
Sie befanden sich in einer engen Passage. Die Wände standen so dicht zusammen, dass er beim Kriechen mit beiden Schultern daran entlangschleifte. Weiter vorne, in der Leere, hörte er das Scharren von Daniels Schritten, die ihn Stück für Stück weiterführten. Dean streckte die Arme vor sich aus, um zu sehen, ob dort irgendetwas war, aber er griff nur ins Leere.
Er kroch voran. Tastete … und spürte, wie ihn etwas Kaltes mit festem Griff von hinten packte. Eine Hand.
„Da bist du ja“, hörte er McClane fröhlich sagen und lachen. „Du hast es also endlich geschafft.“
Sam hatte sich im Kohlenwagen über Sarah gebeugt, versuchte es mit Herzmassage und Beatmung. Immer wenn er die Hände auf ihre Brust drückte, sprudelte das Blut aus der Wunde unter ihrer Bluse hervor.
Sie ist tot. Du kannst sie nicht retten.
Er ignorierte die Stimme, arbeitete weiter.
„Komm schon!“, sagte er und war sich überhaupt nicht bewusst, dass er die Worte laut geäußert hatte. „Komm schon, Sarah!“
Ihr Mund öffnete sich ein wenig, als hätte sie sich gerade erinnert, dass sie noch etwas sagen wollte. Statt Worten formte sich aber eine winzige Blutblase auf ihren Lippen und platzte. Das Blut lief über ihre Unterlippe, sodass sie jetzt aussah, als hätte ihr jemand ein Kabuki-Make-up verpasst.
Ihr Kopf kippte zur Seite.
Hinter ihm schallten Schritte durch den Kohlenwagen, und als Sam den Kopf hob, grinsten ihn fünf Dämonen in blauen und grauen Uniformen an.
„Du hättest die Kanone nicht verlassen sollen“, sagte einer von ihnen.
Er kam näher.
Es liegt jetzt in deiner Hand, mein Kind.
Jackie Daniels kam die Leiter herunter und betrat den quadratischen, mit Blei ausgekleideten Raum. Es war vollkommen dunkel, jedes noch so kleine Photon schien aus dem Raum gesogen worden zu sein. Aber das machte nichts. Sie kannte den Raum in- und auswendig. Die Wände, der Boden und die Decke und auch das viereckige Stückchen Boden in der Mitte, wo der Reliquienschrein auf sie wartete – diese Feinheiten waren ihr ebenso vertraut wie ihr eigener Körper. Sie hatte das alles lernen müssen, als sie noch klein war. Ihr Großvater hatte es ihr beigebracht und sie mit der großen Verantwortung vertraut gemacht, die ihr als nächster Wächterin der Schlinge bevorstand.
Es liegt an dir.
In der Dunkelheit ertönte ein Klimpern, das näher kam.
Daniels erstarrte. Ihre Kopfhaut begann zu prickeln, und es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Ihr Herzschlag beschleunigte so stark, dass sie sein Pochen im Hals spürte. Der Geruch von alten Tierhäuten, uraltem Stoff und Staub stieg ihr in die Nase.
Das klimpernde, klirrende Geräusch kam näher.
„Ich habe sie zurückgebracht“, sagte sie in die Dunkelheit und zwang sich, einen weiteren Schritt nach vorne zu machen. „Die letzte Windung. Sie ist hier.“
Es klimperte. Das Wesen hatte sich wieder bewegt. Es musste sie gehört haben, sagte aber nichts.
Sie kniete sich hin und tastete auf dem feuchten Boden nach den kalten Ecken des Reliquienschreins. Er war bereits an seinem Platz und wartete mit geöffnetem Deckel.
Sie ließ die letzte Windung hineinfallen und schlug den Deckel zu.
Einen Moment lang passierte gar nichts.
Dann passierte alles.
* * *
In der Dunkelheit klang McClanes Gelächter sehr nahe und furchtbar vertraut. Es roch nach verbranntem Gummi und Schwefel.
„Wissen Sie was?“, fragte Dean und musste sich wahnsinnig anstrengen, damit seine Stimme vollkommen normal klang. „Kennen Sie den Unterschied zwischen Ihnen und mir? Ich habe mich nie gebückt, um dem Teufel den Arsch zu küssen.“
Das Gelächter brach ab.
Dean spürte die andere Hand an seinem Hals.
Keine Hand.
Eine Klaue.
Sie drückte zu.
Der Griff war so fest wie eine Schraubzwinge und drückte ihm sofort die Luft ab. Ein kaum vernehmliches Knacken ertönte, als die Knorpel in seinem Hals zusammengequetscht wurden.
Deans Hand wanderte an seinen Gürtel, dorthin, wo das Dämonenmesser steckte, und er zog es heraus.
Читать дальше