Es sah so aus, als wollte sie die Pferde freilassen.
Sarah sah, wie Sheriff Daniels sich den Winchesters näherte.
„Private Will Tanner!“, rief Dean. „Können Sie mal hier drüben helfen?“
Einen Moment lang schien Sarah nicht zu verstehen, was Dean von ihr wollte. Dann begriff sie.
Die Lösung der gesamten Gleichung – der Gesichtsausdruck des Sheriffs, ihr Blick, der auf Dean und Sam gerichtet war –, alles entfaltete sich in ihren Gesichtszügen. Sie griff nach dem Bolzen am Pferch und öffnete das Tor.
Die Pferde drängten sich in einer galoppierenden Welle heraus. Es war, als ob die Vierbeiner sämtlicher Angst, die sich während des Donnerns der Kanonen in ihnen angestaut hatte, nun mit einem Mal die Zügel schießen ließen. Die Tiere kreuzten das offene Schlachtfeld vor Dean und Sam. Ihre Hufe donnerten hart über den Boden zwischen den Polizisten und Rettungshelfern und zwangen alle mit dem Urinstinkt der Angst, die einen vor einer durchgehenden Herde Reißaus nehmen lässt, zurückzuweichen.
„Jetzt!“ Sam fühlte Deans Hand an seinem Arm. „Los!“
Sam und Dean nutzten die wilde Flucht der Pferde als Deckung, um sich die Masken herunterzureißen, und liefen hinter den Kriminaltechnikern her, die den Sarg zum mobilen Kriminallabor trugen. Sie halfen, die Kiste hinten in das Fahrzeug zu laden und kletterten mit an Bord. Der Rest des forensischen Ermittlungsteams – vier Mann und ein Fahrer – wollten zu ihnen in den Wagen steigen.
„Bleibt hier“, sagte Dean. „Mein Partner und ich kümmern uns darum.“
„Ganz allein?“ Der vorderste Mann zog die Maske herunter und ließ seine Augen über die Marke streifen, die um Deans Hals baumelte. „Auf wessen Befehl?“
Bevor Dean etwas entgegnen konnte, war ein Krachen zu hören, und irgendwo hinter ihnen schrie jemand. Die Pferde waren auf dem Parkplatz angekommen, liefen zwischen den Autos herum und machten das Chaos damit komplett.
Der Mann ganz vorne fuhr herum, weil er nachsehen wollte, was passiert war.
„Abfahrt!“, bellte Dean. Er zog die Tür zu und rief nach vorne in Richtung des Fahrers: „Wohin fahren wir?“
„Das ist jetzt ein Fall für die Bundesbehörden“, rief der Mann hinter dem Steuer zurück. „Wir haben ein Flugzeug, das auf dem Malcolm County Flughafen auf uns wartet. Sind Sie die Einzigen, die mitkommen?“
„Sieht so aus“, sagte Sam.
„Wo sind denn die anderen?“
Dean sah aus dem Heckfenster und konnte sehen, wie es diverse Mitglieder der lokalen und bundesstaatlichen Polizeikräfte den Rollenspielern gleichtaten und vor der wild gewordenen Pferdeherde flüchteten.
„Die treiben die Pferde zusammen. Sieht so aus, als ob die uns mit der Leiche hier sitzen gelassen hätten.“ Er zuckte mit den Schultern. „Was soll man machen?“
Das mobile Kriminallabor rollte vom Parkplatz und entfernte sich auf der Landstraße, die von der Stadt wegführte. Hier war es deutlich holpriger als auf der Straße, die nach Mission’s Ridge führte. Sam beobachtete aus dem Fenster, wie die Landschaft als ein beständiger Strom grüner Hügel und blauen Himmels an ihnen vorbeizog.
„Wenn diese Dämonen sich die Zeit genommen haben, das gesamte Feld mit Kanonen umzupflügen“, sagte Sam, „dann müssen die sich ja verdammt sicher gewesen sein, dass die Schlinge in Beauchamps Sarg ist.“
„Dann lass uns mal nachsehen.“
Sam betrachtete den Sarg.
„Jetzt?“, fragte er zweifelnd. „Bist du sicher?“
„Kein Problem. Besorg mir ’nen Schraubendreher.“
„Nein, ich meine, bist du sicher, dass du ihn wirklich aufmachen willst?“
„Darum sind wir doch hier, oder?“
„Wir wissen doch gar nicht, was dann passiert.“
Dean schnaufte. „Ganz offensichtlich kann der Sarg die Macht der Schlinge nicht stoppen. Also müssen wir sie da rausholen und zerstören.“
„Lass mich erst mal versuchen, Bobby anzurufen.“ Sam kramte sein Handy heraus und wählte. Es klingelte ein paarmal, bis Sam auf der Mailbox landete. „Er nimmt nicht ab.“
„Das war’s dann also.“ Dean sah sich um. Die Wände des Fahrzeugs waren mit Stahlschränken und Schwenkbehältern verkleidet, in denen sich Unmengen ordentlich verstauter Instrumente, Chemikalien und medizinischer Werkzeuge fanden. „Hier.“ Dean nahm sich eine Schaufel und schob sie unter den Deckel, während er sich neben den Sarg kauerte. „Das wird gehen.“
Der Fahrer sah in den Rückspiegel und blickte sie wütend an.
„Hey!“, rief er. „Ihr wisst schon, dass wir uns nicht an den Beweismitteln zu schaffen machen dürfen.“
„Das ist schon in Ordnung“, sagte Dean. „Wir sind dazu autorisiert worden.“
„Von wem?“
„Äh, Colonel … Sanders.“
„Was?“
Sam starrte seinen Bruder mit einem „Was soll der Scheiß?“-Blick an. Dean zuckte nur mit den Schultern und drückte den Griff der Schaufel, so fest er konnte, nach unten. Etwas innerhalb des Sarges brach, und der Deckel hob sich quietschend in seinen Scharnieren.
„Ihr da hinten, ihr lasst die Finger von dem Sarg, nicht wahr?“
Dean ignorierte den Fahrer und drückte die Schaufel noch kräftiger nach unten. Sam hockte sich neben ihn, schob die Finger unter den Deckel und drückte ihn mit angewidertem Gesichtsausdruck und nach Luft schnappend nach oben.
„Puh“, schreckte Dean zurück. „Noch mehr Gestank? Echt jetzt?“
Sam zuckte mit den Schultern und bedeckte seine Nase. Die Hinterräder des Trucks holperten auf und ab, was den Geruch sogar noch zu verstärken schien. Es stank nicht ganz so ranzig wie der Mief aus dem Massengrab. Es roch intensiver, irgendwie konserviert und scharf, wie Beef Jerky, das man ein ganzes plus ein halbes Jahrhundert irgendwo gelagert hatte.
Sam sah in den Sarg hinein. Er enthielt Knochen, von denen die meisten auf eine Seite gerutscht waren, was sie irgendwie kleiner und zusammengewürfelt aussehen ließ. Eine der Rippen hing in etwas, das wie ein alter Gurt mitsamt Metallschnalle aussah. Dort lag auch ein rostiger Revolver, der schon vor langer Zeit begonnen hatte, sich in seine Einzelteile aufzulösen.
„Oh Mann! Was ist passiert?“ Dean stocherte in den verfärbten und brüchigen Überresten herum wie ein Kind, dessen Weihnachtsgeschenk kaputtgegangen war, bevor es damit spielen konnte. Er hob den Schädel auf und legte ihn an die Seite.
Scherben menschlicher Knochen und ein Paar abgenutzter genagelter Stiefel waren alles, was von Jubal Beauchamp übrig geblieben war. Es lagen noch ein paar zerfledderte graue Lumpen von seiner Uniform im Sarg, und ein paar Messingknöpfe klapperten auf dem Boden wie lose Zähne. Das war alles.
„Was sagt man dazu, kein Überraschungspreis in den Cracker Jacks “, sagte Dean. „Wo ist die Schlinge?“
„Sie ist nicht da.“
„Hey!“ Der Fahrer hatte sich zu ihnen umgedreht. „Hey!“
„Nun, wo ist sie denn?“
„Das weiß ich nicht, Dean.“
„Warum fragen wir nicht unseren Johnny Reb.“ Dean hob Beauchamps Schädel auf und drehte ihn so, dass er ihm im Hamlet-Stil in die Augen sehen konnte. „Hey, Jubal! Wo ist denn die Schlinge? Sag schon, Kumpel!“ Er sah Sam an. „Was sagt man dazu, der antwortet nicht.“
„Dean …“
Aber Dean sah ihn nicht mehr an. Er starrte den Schädel an, den er immer noch in der Hand hielt – und die dunklen Tentakel einer rauchähnlichen Substanz, die plötzlich aus seinen Augenhöhlen aufstiegen.
„Äh, Dean …“
Die dunkle Substanz begann aufwärts zu schweben, immer noch langsam und gemächlich, als würde sie aus einem langen Schlaf erwachen. Sam erkannte, dass in ihren Tiefen etwas wirbelte und dass dieses Etwas bösartig, wach und entsetzlich bewusst war.
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