Moa’ah.
Das Zeug, das vor ihnen in der Luft schwebte, wirbelte langsam zu Sam hinüber und legte sich mit entdeckungsfreudiger Neugier um Sams Hals. Es formte einen Ring, der ihn unter den gegebenen Umständen an eine Schlinge erinnerte. Das Zeug erinnerte Dean an die Tintenwolke eines Oktopus, die durchs Wasser trieb … Mit dem Unterschied, dass es durch die Luft schwebte und im Laderaum eines mobilen Kriminallabors eingeschlossen war. Eine Sekunde lang wand es sich zur Form eines Fragezeichens. Dann zog es sich zu.
Wie bei einem abrupten Luftdruckwechsel begann es in Sams Kopf zu pochen. Ihm wurde schwindlig und schlecht, und er fühlte sich genau wie jemand, der gerade erkannt hat, dass bei ihm ein besonders unangenehmer Grippevirus zugeschlagen hat.
„Schau es nicht an“, sagte Dean.
„Nicht …?“ Sam zog eine Augenbraue hoch. „Ist das so eine Sache wie bei Jäger des verlorenen Schatzes ?“
„Verdammt, Sam …“
„Okay, schon in Ordnung. Ich schaue nicht hin.“
„Und keine plötzlichen Bewegungen“, befahl Dean. „Ich glaube, es wacht gerade noch auf. Es war lange Zeit im Dunkeln eingeschlossen.“ Mit seinen Blicken folgte Dean den Bewegungen der Substanz in der Luft. „Aber es wird ziemlich schnell kapieren, was hier gerade mit ihm gespielt wird, und dann wird es bestimmt sauer.“
„Ich werde den Schädel zurücklegen“, fügte er hinzu.
„Gute Idee.“
So sanft wie möglich legte er ihn wieder in den Sarg. Das Moa’ah, das aus den Augenhöhlen ausgetreten war, begann nach unten zu gleiten und floss wieder zurück in seine knöcherne Behausung. Vor die Wahl gestellt, einen Fremden anzugreifen oder bei den menschlichen Überresten zu bleiben, die ihm in den vergangenen einhundertsechzig Jahren Gesellschaft geleistet hatten, zog es die bekannten Gefilde vor. Jedenfalls fürs Erste.
„Was in Gottes Namen …?“, brüllte der Fahrer. Er drehte sich um und starrte wütend nach hinten. „Der ganze Truck stinkt ja zum Himmel!“
„Entschuldigung.“ Deans Stimme mühte sich kläglich, Normalität vorzutäuschen. „Ich hatte Armeebohnen zum Frühstück.“
„Ihr könnt doch nicht …“
„Passen Sie auf!“, schrie Sam.
Der Fahrer sah wieder nach vorn, doch es war zu spät. Als er auf die Bremse trat, war der Kombi, der vor ihnen quer über der doppelten gelben Mittellinie parkte, schon keine zehn Meter mehr entfernt. Das Forensik-Mobil fuhr immer noch neunzig Sachen, als es gegen das Auto knallte und es mit der vollen Wucht von eineinhalb Tonnen Stahl regelrecht aufspießte.
Für einen Wimpernschlag wurde die ganze Welt rot. Dann erwachten Sams Sinne einer nach dem anderen wieder zum Leben. Er hörte Glas splittern. Dann wurde er zusammen mit seinem Bruder von der Kraft des Aufpralls nach vorne geworfen und prallte gegen die Metallschränke.
Ein Glas voller faulig riechender Flüssigkeit zerbrach direkt unter Sams Nase und erfüllte die Luft mit dem stechenden Geruch von Formaldehyd. Der Sarg mit den Knochen rutschte ebenfalls nach vorne. Von der Trägheit der eigenen Masse beschleunigt, schoss die Metallkiste geradewegs auf den Fahrersitz zu, als wäre sie von einem unsichtbaren Katapult abgefeuert worden. Dann krachte es noch einmal, als die Windschutzscheibe zerbarst.
Vorne in der Kabine begann der Fahrer zu schreien. Verschwommen wie durch eine beschlagene Scheibe sah Sam, dass die schwarze Substanz den Kopf des Mannes einhüllte. Sie machte irgendetwas mit seinem Gesicht. Er wurde brutal im Sicherheitsgurt hin- und hergerissen. Seine Arme ruderten in der Luft, als er verzweifelt versuchte, sich zu befreien.
Dann verstummten seine Schreie.
Es war still. Bis Sam ein mahlendes, saugendes Geräusch vernahm, das von vorne, vom Fahrersitz her, kam. Sam sah, dass das Moa’ah sich immer noch da vorne aufhielt. Es waberte weiter um das Gesicht des Fahrers herum. Absurderweise fiel ihm eine Zeile aus dem unsterblichen Gedicht Als der Nikolaus kam ein.
… und der Rauch, der umwand wie ein Kranz seinen Schopf …
Hinter ihm war das Klirren von Glas und herumfallenden Instrumenten zu hören. Dean hatte sich stöhnend vom Boden des Trucks erhoben.
„Sammy? Alles in Ordnung?“
„Ja.“ Aber eigentlich war es das nicht. Seine Schulter schmerzte, und seine rechte Hüfte fühlte sich an, als hätte sie jemand mit dem Vorschlaghammer bearbeitet. Trotzdem erhob er sich aus den Trümmern. „Ich sehe mal nach dem Fahrer.“
Sam bückte sich ein wenig und hinkte in geduckter Haltung in Richtung Fahrersitz. Einen Moment war er vollkommen von der Aussicht gefesselt, die sich durch die geborstene Windschutzscheibe bot. Das Forensik-Mobil hatte den Kombi von der Straße katapultiert und ihn seitlich in den Graben am rechten Straßenrand geschoben, wo er jetzt wie ein zusammengefalteter Akkordeonbalg dalag und unter seiner Motorhaube fauchend Dampf ausstieß. Die holzverkleidete Seitenwand war eingedrückt, und Sam konnte erkennen, dass der Wagen leer war. Wer immer ihn quer auf der Straße geparkt hatte, war einfach verschwunden.
Dann wandte Sam seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu. Direkt vor ihrem Fahrzeug, nicht weit vom Kühlergrill entfernt, lag der Sarg mitten auf der Straße, dort, wo die Wucht des Aufpralls ihn hingeschleudert hatte. Der Sarg war auf die Seite gekippt, und Jubal Beauchamps Knochen lagen über den Asphalt verstreut. Nur ein kleines Häufchen war im Sarg geblieben.
Sam konnte den Schädel nicht sehen, aber er musste irgendwo da draußen sein. Die übrigen Knochen sahen aus wie ein kompliziertes, extravagantes Würfelspiel, dessen Ausgang über das kosmische Schicksal aller Beteiligten bestimmten würde.
Zum Schluss blickte Sam nach links auf den Fahrersitz. Er konnte nur die Hinterseite des Kopfes sehen, weil der Fahrer ihn etwas nach links gedreht hatte, als würde er aus dem Fenster in den Seitenspiegel blicken.
„Hey, Kumpel!“ Eigentlich erwartete er gar keine Antwort.
Er machte einen letzten Schritt vorwärts, sodass er auf einer Linie mit dem Fahrer- und Beifahrersitz stand. Er tippte dem Mann auf die Schulter, bevor er an ihm rüttelte. Der Kopf rollte herum und enthüllte ein klaffendes rotes Loch dort, wo eigentlich das Gesicht sein sollte. Augen, Nase und Mund des Fahrers waren nicht mehr da, und man konnte die Innenseite des Hinterkopfes sehen. Auf seinem Hemd klebte ein Lätzchen aus Blut, Hirnmasse und Glassplittern von der geborstenen Windschutzscheibe. Sam dachte blitzartig zurück an die Schreie des Mannes und das saugende Geräusch, das auf sie gefolgt war.
Das Moa’ah hat das getan. Aber warum?
Dann sah er es.
Beauchamps Schädel war während des kurzen, aber heftigen Flugs dort vorne aus dem Sarg gefallen. Und er war auf dem Schoß des Fahrers gelandet.
Sam sah genauer hin. In den Augenhöhlen war gerade noch so die pulsierende schwarze Substanz zu erkennen.
Vorhin war das Zeug da vielleicht noch nicht ganz wach, dachte Sam. Aber jetzt ist es das definitiv. Und Dean hatte recht, es ist sauer.
„Sam?“, rief Dean von hinten. „Wie schlimm sieht es da vorne aus?“
Sam antwortete nicht. Er wagte kaum zu atmen.
Vorsichtig, als würde er ein Hornissennest hochheben, ergriff er die Hinterseite von Beauchamps Schädel und hob ihn hoch. Er konnte spüren, wie das Moa’ah in der hohlen, knochigen Hemisphäre brummte wie der Vibrationsalarm eines Handys. Er hielt den Schädel kurz mit den Fingerspitzen fest, drehte ihn und warf ihn dann, so schnell er konnte, durch das Loch in der Windschutzscheibe auf die Straße. Es klapperte beim Aufprall. Der Schädel rollte über das Pflaster und blieb neben einem schwarzen Stiefel liegen.
„Danke, Sam! Wie umsichtig von dir, dass du die Arbeit für uns erledigst!“
Читать дальше