„Ist das hier eine brenzlige Angelegenheit?“
McClane nickte düster.
„Sehen Sie selbst!“
Tommy führte Sam durch ein Labyrinth von miteinander verbundenen Räumen tiefer in das Gebäude hinein. Während sie an Reihen von Glasvitrinen vorbeigingen, erhaschte Sam einige Blicke auf alte Pistolen und Musketen, vergilbte Dokumente, Stiefel und Uniformen, die allesamt sorgfältig beschriftet und gestapelt waren. Immer wenn er dachte, dass er Tommy eingeholt hatte, war der schon zum nächsten Ausstellungsstück weitergeeilt.
Er bog um eine Ecke und holte Tommy endlich ein. Der war vor einem Schaukasten stehen geblieben, der die erste, zweite und dritte Nationalfahne des Südens während des Krieges zeigte.
„Welche Art von Aktivität haben Sie vor dem Vorfall in der Stadt bemerkt?“, fragte Sam den Historiker. „Gab es davor etwas Ungewöhnliches?“
„Zuerst mal“, sagte McClane, „wimmelt es hier nur so von Geistern.“
„Metaphorisch gesprochen?“
McClane schenkte ihm einen langmütigen Blick.
„Sehe ich so aus wie einer, der gerne metaphorisch spricht?“
„Ich meine ja nur …“
„Haben Sie die Bahngleise gesehen, die durch die Stadt verlaufen? Es war einmal, da hatten die Konföderierten einen Zug, der mitten durch die Main Street bis zum Schlachtfeld fahren konnte. Sie hatten einen Flachwagen, auf den ein Gatling-Geschütz montiert war, das die erste Welle der Unionssoldaten direkt zur Hölle schickte.“ Er nickte. „Der Zug steht mittlerweile nur noch brav im Schuppen, aber die Gleise sind noch da. Die Leute erzählen sich, dass man, wenn man nachts genau hinhört, noch das Pfeifen der Lokomotive hören kann.“
Sam zog eine Augenbraue hoch.
„Wirklich?“
„Das ist längst nicht alles.“ Tommy verstummte und deutete um die Ecke. „Gleich hier durch.“
Sam folgte ihm in ein Zimmer und sah, dass Nate sie bereits erwartete. Die Bibliothek war ein heller Raum mit hohen Decken, in dem hölzerne Bücherregale die Wände säumten. Davor lehnte eine Trittleiter, die bis zur Spitze reichte und auf einer Schiene montiert war. Lesetische aus Eiche und Arbeitsnischen glänzten unter Reihen von Schwanenhals-Lampen. Zur Linken stand ein weiterer Schreibtisch mit einer ordentlich platzierten Computerausrüstung und einem Monitor. Mehrere eingerahmte Diplome und Zertifikate hingen an der Wand.
„Das ist beeindruckend“, sagte Sam. „Bezahlt die Stadt das alles hier?“
„Die Leute hier nehmen ihre Geschichte sehr ernst“, sagte Tommy. Mit einem leichten Anflug von Stolz fügte er hinzu: „Nate und ich haben ziemlich viel selbst getischlert.“ Er streckte die Hand aus und zerzauste Nates Haar. „Tu mir mal einen Gefallen, Sohn, und bring uns bitte diese Folianten aus der oberen Ecke rechts hinten, siehst du sie? Mai 1863. Buchstaben A bis C.“
Der Junge nickte und kletterte die Leiter hinauf. Er zog einen Stapel Bücher heraus, der aussah, als wäre er in Tierhaut gebunden, und schleppte ihn zum Tisch herüber. Tommy schlug das Buch auf und blätterte in den steifen Seiten, die so alt waren, dass sie beim Umblättern knisterten.
„Jubal Beauchamp war ein Mistkerl“, begann Tommy. „Entschuldigen Sie, wenn ich das so sage, aber dafür gibt es kein besseres Wort. Er kam aus Hattiesburg, ungefähr zwanzig Meilen von hier. Er war der einzige Sohn eines Predigers aus Tennessee, und zog hierher, nachdem er es in seiner Gemeinde dort wohl etwas zu bunt getrieben hatte. Was da genau los war, weiß ich nicht, aber das kann man sich ja gut vorstellen, denke ich.“
Tommy fuhr fort.
„Wie dem auch sei, Jubal wurde wie sein Daddy für die Kanzel gedrillt, aber gleich nach dem Priesterseminar ist ihm etwas zugestoßen, das seine Sicht der Dinge verändert hat.“
„Sie scheinen eine Menge über ihn zu wissen“, sagte Sam.
„Sagen wir einfach, Sie sind nicht der erste Jäger, der hier auftaucht und sich nach ihm erkundigt. Wie man es auch dreht und wendet, unheimlicher als bei diesem Beauchamp kann’s kaum werden. Schauen Sie!“
Tommy zeigte auf ein dünneres, in Leder gebundenes Heft, das aussah, als wäre es in den Rücken des größeren Buches eingenäht.
„Sehen Sie das hier?“, fragte er. „Das ist Beauchamps Tagebuch. Das haben wir 2005 von einem Sammler in Louisiana gekauft.“ Tommy öffnete es, und der Mief, der daraus aufstieg, roch intensiv nach toter Tierhaut mit einer animalisch-stechenden Note.
Tommys Tonfall wurde nun regelrecht ehrfürchtig.
„Wollen Sie mal etwas wirklich Gruseliges sehen?“
Sam beugte sich über die Zeilen der engen, ordentlichen Schrift, die über die Seiten zu kriechen schien. Sie waren voller Bibeltexte, die Jubal anscheinend wortgetreu abgeschrieben hatte. Was Sam wiedererkannte, war eher banal. Es fanden sich Notizen, die Beauchamp gemacht hatte, Listen von Büchern, Anmerkungen zu Predigten und Seminaren.
„Jetzt sehen Sie sich das an.“ Tommy zeigte auf das Buch. „Mai 1862. Er verlässt das Priesterseminar und geht zur Armee der Konföderierten.“
„Die Seiten sind leer“, sagte Sam.
„Nur ein paar.“ Tommy blätterte weiter. „Hier wird es dann erst richtig interessant.“
Der Unterschied war unverkennbar. Beauchamps gerade, ordentliche Handschrift war zu einem zittrigen, fast gewalttätigen Kritzeln geworden. Es war, als hätte er es geschrieben, während er im Sattel saß oder unter dem Einfluss eines Cocktails psychotroper Substanzen mit hochgradig angstauslösender Wirkung. Dazwischen eingestreut fanden sich Zeichnungen, Pentagramme und dämonische Insignien, die ganze Seiten einnahmen.
Allmächtiger, Herr der Fliegen.
Unsterblicher Schwarzer Vater,
Bewahrer der Ziegen,
nimm mein Opfer an und
schenke mir den vollkommenen
Schutz deines Zorns.
Dein ist das Reich
und die künftige Kraft,
in Ewigkeit.
Sam blinzelte und sah zu seinem Gastgeber auf.
„Das ist eine Entweihung des Vaterunsers.“
McClane starrte ihn an.
„Woher wissen Sie das?“
„Diese Worte hier, sie …“, begann Sam und stockte. Er sah auf die Seite hinunter und bemerkte, dass die Worte, die dort geschrieben standen, nicht nur in einer fremden Sprache abgefasst waren, sondern auch in Buchstaben, die dem lateinischen Alphabet nicht im Entferntesten ähnelten. Trotzdem hatten sie sich vor seinen Augen automatisch übersetzt.
Sam blinzelte erneut und spürte, wie sein Puls immer stärker im Hals pochte, bis er das Blut in seinen Ohren dröhnen hörte. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Dann schaute er sich noch einmal die Buchstaben auf der Seite an und sah nur einen undurchdringlichen Dschungel voller Symbole.
„Ich weiß nicht …“, brachte er heraus. „Ich weiß nicht mal, warum ich das lesen konnte. Ich weiß nicht einmal, was für eine Sprache das ist.“
„Es ist Koptisch“, sagte McClane, dessen Stimme vor Überraschung vollkommen hohl klang. „Es ist eine tote Sprache. Niemand spricht das – jedenfalls nicht mehr.“
„Nun …“ Sam schluckte und versuchte, sich wieder zu sammeln. „In letzter Zeit haben sich die Dinge für mich etwas anders entwickelt.“
„Das hört sich auch so an“, sagte Tommy misstrauisch. Er sah Sam eine Weile schweigend an und schien dann zu einem Entschluss gekommen zu sein. „Wo wir gerade von anders sprechen, schauen Sie sich das mal an.“ Er blätterte weiter in dem Tagebuch und zog eine dicke, steife Daguerreotypie heraus, die er vorsichtig an der Ecke anfasste und sie Sam reichte. „Das ist die einzige bekannte Fotografie des alten Jubal.“
Sam betrachtete es. Das Foto zeigte einen hageren Soldaten mit einem keilförmigen Gesicht in einer schmutzigen, schlecht sitzenden Uniform. Seine Augen lagen im Schatten seiner Schirmmütze, aber es gab keinen Zweifel, dass ein düsteres Grinsen seinen Weg auf das Gesicht des Mannes gefunden hatte. Beauchamp sah aus wie jemand, der ein Geheimnis im Herzen trug – eines, das so finster und verheißungsvoll war, dass es, einmal enthüllt, kein Halten mehr geben würde.
Читать дальше