Die Eingangshalle besaß keine Fenster und war dunkler, als er erwartet hatte. Seine Schritte hallten auf dem steinernen Boden wider, wie man es von Gebäuden kannte, die lange Zeit niemand mehr betreten hatte. Es roch nach Kampfer und altem Papier, Leinwand und Schimmel. Sams Augen hatten sich immer noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Für einen Moment konnte er noch nicht einmal sehen, wie groß die Halle eigentlich war.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine Männerstimme hinter ihm.
„Kommt ganz darauf an“, antwortete Sam. Der Strahl einer Taschenlampe streifte sein Gesicht und blendete ihn einen Moment lang. „Arbeiten Sie hier?“
„Genau“, sagte der Mann. „Tut mir leid wegen der Taschenlampe. Probleme mit der Verkabelung. Es ist ein wunderschönes altes Gebäude, aber die Elektrik macht nichts als Zicken, wenn Sie meine Ausdrucksweise bitte entschuldigen.“ Der Mann griff in einen Sicherungskasten an der Wand und fummelte einen Moment lang darin herum. Dann ertönte ein lautes Klacken, und das Licht kehrte flackernd zurück.
„Ah, geht doch.“
Sam blickte nach oben und sah, dass sie in einem großzügigen Foyer standen. Der Mann ihm gegenüber trug eine Baseballmütze der Atlanta Braves, ein schwarzes T-Shirt und ausgewaschene Levis-Jeans. Er sah nicht viel älter als Mitte dreißig aus, aber die ersten Fältchen hatten sich bereits um Augenwinkel und Mund angesiedelt und gaben seinem Gesicht den zufriedenen Ausdruck eines Mannes, der mitten im Leben steht. Die Stoppeln auf seinem Kinn waren schon ein wenig angegraut und schimmerten sanft im künstlichen Licht.
Neben ihm stand ein Junge von vielleicht elf oder zwölf Jahren, der ebenfalls Jeans und ein T-Shirt trug. Er war blond, hatte helle Haut und neugierige blaue Augen, die alles in sich aufzusaugen schienen. Der Mann hielt einen riesigen, altertümlichen Werkzeugkasten. Mit der Art, wie er dastand, imitierte der Junge – er hatte einen Stapel dicker gebundener Bücher unter den Arm geklemmt – unbewusst die Körperhaltung des Mannes. Es gab keinen Zweifel, die beiden waren Vater und Sohn.
„Ich bin Tommy McClane“, sagte der Mann, stellte den Werkzeugkasten ab und wischte sich die Rechte an der Hose ab, bevor er sie Sam entgegenstreckte. „Das ist mein Sohn Nate.“
„Ich freue mich, Sie kennenzulernen“, sagte der Junge förmlich.
Sam schüttelte ihnen die Hände und musste etwas über die Ernsthaftigkeit lächeln, mit welcher der Junge den schweren Bücherstapel vom einen unter den anderen Arm schob, um ihm seine kleine Hand reichen zu können.
„Arbeiten Sie für die Historische Gesellschaft?“, fragte Sam.
„Wir sind die Historische Gesellschaft“, sagte Tommy ironisch. „Der alte Pop Meechum hat das hier mal geleitet, aber seit ihn ein Schlaganfall niedergestreckt hat, kümmern sich nur noch Nate und ich um die Sachen hier.“ Er kniff die Augen etwas zusammen. „Haben Sie auch einen Namen, oder soll ich Sie einfach ‚Phantom Stranger‘ nennen?“
Sam lächelte erneut.
„Ich bin Sam.“
„Sam also.“ Tommy McClane sah zu seinem Sohn hinab. „Nate, warum bringst du die nicht zurück in die Bibliothek und schaust mal, ob wir von dort noch etwas holen müssen. Wir treffen uns dann im Museum.“
„Ja, Sir.“
Tommy sah ihm hinterher und nickte dann in die andere Richtung.
„Kommen Sie doch einfach mit nach hinten.“ Er hob den Werkzeugkasten auf und schlenderte zurück durch den Korridor. Dann stoppte er erneut, als ob ihm etwas eingefallen wäre. „Sie kommen nicht von hier, stimmt’s?“
„Nein.“
„Sind Sie einer von diesem Rollenspiel-Hokuspokus draußen am Fluss?“
„Das könnte man so sagen.“
„Ein Haufen verrückter Hinterwäldler, die mit Spielzeuggewehren im Wald rumlaufen und sich zum Narren machen“, sagte er und beobachtete, wie Sam reagieren würde. „Habe ich recht?“
„Eigentlich“, sagte Sam, „Finde ich es schon sehr beeindruckend, wie sehr sie sich der Authentizität verschrieben haben. Sie sind Geschichtsrekonstrukteure.“
Tommy kniff einen Moment die Augen zusammen, dann grinste er.
„Sie sind in Ordnung, wissen Sie?“
„Wie bitte?“
„Sehen Sie, Sie reden gerade mit einem von diesen Trotteln.“ Tommy hielt eine Hand hoch und zeigte Sam einen angelaufenen Ring. „Konföderierte Staaten von Amerika. Mein Urgroßvater trug diesen Ring auf eben dem Schlachtfeld da draußen. Nicht, dass ich alles unterschreibe, für was der Süden gekämpft, hat, bestimmt nicht. Hier gibt es keinen außer mir, der glücklicher war, als ein Afroamerikaner ins Weiße Haus eingezogen ist. Wurde auch verdammt noch mal Zeit, sage ich. Nate und ich sind zur Amtseinführung rauf nach DC gefahren. Aber ich bin ebenso höllisch stolz auf die Männer, die ihr Leben im Dienst für ihre Sache gelassen haben.“ Er drehte sich wieder um und ging weiter den Korridor entlang.
Sam nickte und folgte ihm. Er wusste nicht so recht, was er von dieser merkwürdigen Mischung aus Hinterwäldlergelehrsamkeit und bescheidener Zurückhaltung halten sollte. Wie auch immer, er hatte sich bereits entschieden, dass er Tommy McClane mochte. Und im Moment konnte er es sich nicht gerade leisten, bei seinen Verbündeten wählerisch zu sein.
„Hören Sie mir mal zu“, sagte Tommy, während er einen Schrank öffnete und den Werkzeugkasten wegstellte. „Ich habe mir jetzt lange genug den Mund fusselig geredet, also sagen Sie mir mal – was kann ich für Sie tun?“
„Ich hatte gehofft, dass Sie mir etwas über einen konföderierten Soldaten namens Jubal Beauchamp erzählen können.“
„Beauchamp?“ Tommy blickte zu ihm auf und machte aus seiner Überraschung kein Hehl. „Wozu wollen Sie denn etwas über den wissen?“
„Nun, ich bin sicher, dass Sie gehört haben, was gestern mit Dave Wolverton passiert ist. Er spielte die Rolle von Beauchamp. Ich würde gerne wissen, ob Sie mir einige Informationen über ihn geben können. Über den historischen Soldaten Beauchamp, meine ich.“
Tommy sah ihn lange mit einer undurchdringlichen Miene an. Er neigte den Kopf etwas zur Seite.
„Sie sind kein Cop, oder?“
„Nein.“
„Bundesagent?“
Sam atmete ein und sah tief in Tommys graue Augen. Er wusste, dass jetzt wahrscheinlich seine letzte Möglichkeit war zu lügen. Instinktiv schüttelte er den Kopf.
„Nein.“
„Habe ich auch nicht gedacht. Also, was wollen Sie?“
„Ich …“, setzte Sam an, und ihm wurde klar, dass er sich keine Hintertür offengehalten hatte. „Belassen wir es dabei, dass es für das, was sich da gestern auf dem Schlachtfeld zugetragen hat, keine vernünftige Erklärung gibt. Und das ist genau die Art von Ereignissen, auf die sich meine Aufmerksamkeit richtet.“
Tommy starrte ihn einen Moment an und brach dann in Gelächter aus.
„Sie sind ein Jäger“ , sagte er und klopfte Sam auf die Schulter. „Jetzt ergibt das alles einen Sinn.“
Sam fuhr erstaunt zurück.
„Ich habe Ihren Namen noch nie gehört“, sagte er. „Ich kenne auch keinen, der in dieser Gegend arbeitet.“
„Ich habe Rufus erwartet“, sagte McClane. „Was ist mit ihm passiert?“
„Ihm ist etwas dazwischengekommen. Mein Bruder und ich sind eingesprungen.“ Sam schüttelte den Kopf. Er verarbeitete immer noch die Informationen, die der andere ihm gerade aufgetischt hatte. „Also haben Sie mit Rufus Turner gejagt?“
„Nicht aktiv. Man sollte nicht auf die Jagd gehen, wenn man einen kleinen Sohn hat. Sie wissen, was ich meine.“
Sam nickte.
„Das ist wahr.“
„Nates Mutter ist vor vier Jahren gestorben. Autounfall. Ein paar Teenager bei ihrem ersten Date, alle vollkommen nüchtern – so zufällig wie die Dinge eben sind. Man kann keinem die Schuld geben. Es gab keine Überlebenden. Es war schwer für uns, besonders für den Jungen. Während ich selbst damit fertig werden musste, wurde mir klar, dass es sehr wichtig ist, dass ich für ihn da bin.“ McClane schüttelte den Kopf. „Das heißt aber nicht, dass ich nicht Augen und Ohren offen halte, um anderen Jägern einen Tipp zu geben, wenn die Dinge anfangen, brenzlig zu werden.“
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