Er ging und Juno wandte sich wieder dem Feuer zu. Benedict hatte ihr nur gesagt, was sie bereits wusste. Er brauchte Ruhe, regelmäßig zu essen und eine Bleibe für den Winter. Einen besseren Ort als Mrs Hoadswood’s Pension würde er nicht finden. Doch Juno ließ die Vorstellung, in Urbs Umida zu bleiben, das Blut in den Adern stocken.
»Ich muss hier weg!«, sagte sie entschieden.
So stand sie eine Weile tief in Gedanken versunken. Die Vorstellungen mit Madame de Bona waren im Grunde genommen nicht so schlecht – zweifellos konnten sie als Unterhaltung durchgehen –, aber diese geheimniskrämerischen Totenerweckungen, das war etwas ganz anderes. Sie bereiteten ihr großes Unbehagen. Die Sache mit Sybil hatte sie gar nicht machen wollen, aber Benedict hatte sie überredet. Sie dachte an den Jungen, den sie unter Drogen gesetzt hatten. Jemanden zu verletzen war nie ihre Absicht gewesen. Sie konnte seine Augen nicht vergessen, eins grün, eins braun.
Juno ging im Zimmer auf und ab. In ihrem Kopf begann ein schwerer Kampf. Wieder zog sie den Koffer hervor und legte ihn vor dem Feuer auf den Boden. Sie hatte bereits die Riemen gelöst, da stand sie noch einmal auf und trat ein paar Schritte zurück, doch den Koffer ließ sie dabei nicht aus den Augen. Schließlich stieß sie einen gequälten Seufzer aus, kehrte um, schlug mit zitternden Händen den Deckel zurück und holte tief Luft, als sie die Reihe der Päckchen und Töpfe darin begutachtete.
Da gab es Tonkrüge und gewachste Baumwollsäckchen, zugekorkte Glasflaschen, weiche Lederbeutel und bauchige Henkelgefäße mit Stöpseln. Juno strich mit den Fingern über die verschiedenen Sachen, dann nahm sie einen kleinen hölzernen Mörser mit Stößel heraus. Rasch und mit geübten Griffen streute sie aus einem der Säckchen Pulver und aus einem anderen zerkleinerte Blätter in den Mörser. Danach gab sie vorsichtig drei Tropfen einer bernsteingelben Flüssigkeit dazu und zerdrückte die Mischung zu einer Paste. Sie schabte die Paste in einen kleinen Tiegel, den sie über das Feuer hängte. Dann legte sie sich auf ihr Bett, inhalierte den Wohlgeruch und ließ sich in köstlich duftende Träume tragen.
Kapitel 8

Ende in den Wellen
DAS GEFRÄSSIGE BIEST
Betty Peggotty, Eigendümerin Einsizerin Besizerin vom Wirtshaus Zum Flinken Finger kann nich verantwortlich gemacht werden für ein Nervenzusammenbruch, Schlaganfall oder ähnliche Leiden, was vielleich die Folgen sein könn für Gäste, die sich mit dem Gefräßigen Biest abgeben (das heißt, es beobachten, mit ihm sprechen oder es füttern). Besucher mit angegrifener Gesundheit oder mit schwachem Herzen werden ausdrüklich darauf hingewiesen, dass sie auf eigene Gefahr da reingehen.
Das Gefräßige Biest is eine ungeheuerliche Abweichung von der Natur, deshalb kann man es nich zähmen und auch nich vernünftig mit ihm reden.
Fragen sinn an sein Besitzer, Mr Rudy Idolice, zu richten (sitzt auf dem Stuhl neben dem Vorhang).
Anordnung von Betty Peggotty
Harry Etcham war stolz darauf, ein gewöhnlicher Urbs Umidaner zu sein, geboren und aufgewachsen südlich des Foedus und von Anfang an vertraut mit dem Gestank, dem Schmutz und dem Alltag der Südstädter. Wie viele andere meisterte er sein Leben mit Schlagfertigkeit, angeborener Gerissenheit und einer merkwürdigen – sehr merkwürdigen – Auffassung von ehrlicher Arbeit. Am Ende des Tages trank er gern ein oder auch drei Bierchen in der nächsten Wirtschaft, meistens im Flinken Finger , und damit ist schon alles Wesentliche über ihn gesagt.
An diesem Abend hatte Harry auf Empfehlung seiner Freunde, aber auch, um seine Neugier zu stillen, beschlossen, sich das Gefräßige Biest anzuschauen. Immerhin hatte er einen in seinen Augen sehr erfolgreichen Tag hinter sich. Nicht nur, dass er zwei Zwiebeln und eine Möhre gefunden hatte, die noch essbar waren (nach seinen Maßstäben) und die später in seinem Eintopf landen würden. Es war ihm außerdem gelungen, acht Pennys aus dem Hut eines blinden Bettlers zu stehlen. Er fühlte sich in Feierlaune, obwohl er noch keinen Tropfen getrunken hatte.
Nun stand er schwerfällig vor der an die Wand gehefteten Mitteilung. Er buchstabierte und las, so gut es ging, und verstand immerhin so viel, dass er sicher sein durfte, weder unter einem schwachen Herzen noch unter einer angegriffenen Gesundheit zu leiden. Wie aus den Zeilen zu entnehmen war, saß der Besitzer der Bestie auf einem Stuhl ganz in der Nähe, und so drückte er dem Mann ein Sixpencestück in die Hand und stieg die Treppe hinter dem Vorhang hinab. Der Gestank, der ihm entgegenschlug, war schier überwältigend und passte zum Foedus. Vergeblich suchte Harry nach einem Taschentuch, das er sich unter die lange Nase hätte halten können, und begnügte sich deshalb mit seinem Kragen. Der Kellerraum war nur spärlich beleuchtet, doch als Harry auf der untersten Stufe stand, hatten sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt. Kaum drei Schritte vor ihm war ein vergitterter Käfig. In der hinteren Ecke erkannte er eine massige, unförmige Gestalt. Er lauschte angestrengt und hörte etwas grunzen und kauen, knacken und fauchen. Dann ein lautes feuchtes Niesen. Angeekelt spürte er einen Schwall Spucketropfen in seinem Gesicht – er wagte nicht sich auszumalen, was sonst noch dabei sein könnte.
Während er so beobachtete und horchte, merkte er, dass er nicht allein im Raum war. Auf der einen Käfigseite, nahe der Rückwand, stand ein Mann. Das schloss Harry aus dem Umriss des Hutes, denn der Mann selbst war dunkel gekleidet, ziemlich formlos und kaum identifizierbar. Er hatte den Kopf an die Gitterstäbe gelehnt und schien der Kreatur etwas zuzuflüstern. Harry konnte die Worte nicht verstehen, deshalb ging er näher heran, stolperte jedoch über einen Stock und krachte mit einem dumpfen Schlag gegen den Käfig. Die geheimnisvolle Gestalt fuhr zusammen und hastete augenblicklich mit gesenktem Kopf in Richtung Treppe, ohne Harry auch nur einer Geste oder eines Grußes zu würdigen.
Leicht irritiert vom plötzlichen Verschwinden des Mannes wandte Harry seine Aufmerksamkeit wieder dem Käfig zu. Er konnte die Bestie jetzt etwas besser sehen, doch sie nahm seine Anwesenheit überhaupt nicht wahr und setzte ihr grässliches Mahl fort.
»He«, sagte Harry halbherzig. Dafür hatte er doch wohl kein Sixpencestück ausgegeben. »He!«, rief er lauter. Immer noch keine Reaktion. Gerade suchte er auf dem Boden nach einem Gegenstand, mit dem er das Vieh kitzeln könnte, da schoss die Bestie auf einmal blitzschnell von der Rückwand des Käfigs zur Vorderseite und warf sich gegen die Gitterstäbe. Plötzlich fand sich Harry Auge in Auge mit dem wohl absonderlichsten Geschöpf, das er je zu Gesicht bekommen hatte. In seinem Leben in Urbs Umida und in den Kreisen, in denen er verkehrte, hatte er mehr als genug absonderliche Gestalten gesehen, aber diese hier übertraf alle.
Das Gefräßige Biest riss sein riesiges Maul auf und brüllte. Seine Zähne waren bräunlich und gelb, Geifer tropfte ihm über die Unterlippe. Sein Gesicht war dicht behaart und hatte blutunterlaufene Augen mit riesengroßen Pupillen. Eine der haarigen Hände – oder waren es Pranken? – hielt Harrys Kragen mit festem Griff gepackt. Doch ob es nun Hände oder Pranken waren, interessierte Harry in diesem Moment nicht im Geringsten.
»Aaarrggh!«, schrie er, fuhr herum, riss sich aus den Klauen des Monsters los und rannte um sein Leben die Treppe hinauf. Er hastete durch den Vorhang, während der Mann, der auf dem Stuhl saß, ein Auge öffnete und mit kaum verhülltem spöttischen Grinsen hinter ihm herschaute. Dass Leute so reagierten, hatte Rudy Idolice schon oft erlebt, das war nur gut fürs Geschäft.
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