Pin lief ein Schauder über den Rücken und er schüttelte den Kopf. Mr Gaufridus hatte es anscheinend nicht bemerkt, denn er sprach unbeirrt weiter, umkreiste den Tisch, ruderte mit den Armen durch die Luft und zeigte ein Verhalten, das in keiner Weise mit seinem schläfrigen Gesichtsausdruck übereinstimmte.
»Stell dir vor, du erwachst aus harmlosem Schlaf und findest dich in vollständiger Dunkelheit wieder. Du willst nach der Kerze greifen, die du auf dem Tisch neben deinem Bett weißt, doch deine Hand stößt mitten in der Bewegung links und rechts gegen etwas Hartes. Du willst dich bewegen, aber du kannst dich nicht einmal umdrehen. Fassungslosigkeit überkommt dich, wenn du merkst, das dies alles kein Traum ist und dass du nicht in deinem Bett liegst, sondern in deinem Sarg .«
Pins Zähne klapperten. Die Temperatur in diesem Raum musste tatsächlich sehr viel niedriger sein. Mr Gaufridus machte jedoch noch keine Anstalten, zum Ende zu kommen. Keine Spur von Erregung war auf seinem Gesicht zu lesen, doch seine Augen schienen jetzt zu funkeln. Zweifellos bereitete es ihm ein eigenartiges Vergnügen, den Albtraum seiner Jugend noch einmal zu erleben.
»Was hast du für Todesqualen auszustehen, wenn du so daliegst und dich kaum rühren kannst! Du wirst versuchen, dich ruhig zu verhalten, um nicht unnötig Luft zu verbrauchen, schließlich hoffst du ja noch, dass dich jemand finden wird. Wenn aber dann Stunden vergehen und Tage, begreifst du, dass niemand dein Rufen, Schreien und Schluchzen hören kann. Du weißt, dass es nur zwei Möglichkeiten für dich gibt: den Tod durch Sauerstoffmangel oder den Tod durch Verhungern. Du fasst dich an die Kehle, keuchst bei jedem Atemzug. Dann, wenn das Ende näher rückt, packt dich ein Hunger, der nie gestillt, und ein schrecklicher Durst, der nie gelöscht werden kann.«
Er drehte sich nach Pin um. »Sag, kannst du dir Schlimmeres vorstellen?«
Pin, der inzwischen überzeugt war, dass Mr Gaufridus beabsichtigte, ihn lebendig zu begraben, wich zur Tür zurück.
»Ich … nein«, stammelte er.
»Gut«, sagte Mr Gaufridus, »dann wirst du verstehen, warum ich all die ›komischen Sachen‹ erfunden habe. Natürlich, es gibt auch Leute, die Särge mit Alarmsystemen bauen, mit Klingeln und Fahnen. Aber ich nicht. Zum Klingeln ist es zu spät, wenn man begraben ist. Der Schaden ist angerichtet, und zwar nicht am Körper, sondern im Kopf. Ich, Goddfrey Gaufridus, habe mich mit dem eigentlichen Kern des Problems befasst.«
»Und der wäre?«, fragte Pin zitternd. Noch immer betrachtete er diesen unheimlich kühlen Menschen mit tiefem Misstrauen.
»Dass eine Person tot sein muss, bevor sie begraben wird!«
»Oh«, sagte Pin. Er will mich also doch nicht lebendig begraben, dachte er, aber das war kein großer Trost.
Mr Gaufridus fuhr fort. »Du wirst für deine Arbeit bei mir wissen müssen, wie all diese Apparate anzuwenden sind.« Beim Sprechen fasste er Pin am Ellbogen und dirigierte ihn zum Tisch hin. »Wenn du bitte so gut sein möchtest?«, sagte er, half Pin hinauf und hieß ihn sich hinlegen.
»Das hier ist einer der ersten Apparate, die ich entwickelt habe, und ich muss sagen, dass ich sehr zufrieden damit bin.« Er zog Pin Stiefel und Socken vom Fuß, ließ eine Lederschlaufe um seinen großen Zeh gleiten und zurrte sie fest. Der arme Pin, dessen Misstrauen nun in größte Verwirrung umschlug, wollte sich halb aufrichten und auf die Ellbogen stützen, doch Mr Gaufridus drückte ihn wieder zurück, ohne das Unbehagen des Jungen zu bemerken.
»Meinst du, das hier würde dich aufwecken, wenn du nur schliefest?«
Mit diesen Worten langte Mr Gaufridus nach einem über dem Tisch angebrachten Griff und begann, rhythmisch daran zu ziehen. Langsam kamen die Zahnräder in Gang und Pins Fuß wurde mit einem kräftigen Ruck nach oben gezogen.
»Ja, ja, ganz bestimmt!«, rief Pin gellend, um das Knirschen der Scharniere und das Rasseln der Kette zu übertönen. »Aber ich müsste schon sehr, sehr tief schlafen, damit jemand überhaupt annehmen könnte, ich wäre tot.«
»Hmm.« Mr Gaufridus wurde nachdenklich. Es kam selten vor, dass er Gelegenheit fand, seine Erfindungen an einem lebenden Menschen zu testen, und er hatte vor, sie bestmöglich zu nutzen. »Dann wollen wir mal das hier ausprobieren«, erklärte er. Damit öffnete er eine schmale Schublade in der Kommode hinter sich und entnahm ihr eine lange Nadel, mit der er – ziemlich fest, um die Wahrheit zu sagen – in Pins nackte Fußsohle stach.
»Auaaaa!«, schrie Pin und sprang mit einem Satz vom Tisch, wobei er vergaß, dass er noch an der Zehen-Zugmaschine befestigt war. Hätte Mr Gaufridus ihn nicht aufgefangen, hätte er die ganze Apparatur von der Decke gerissen und die Folgen wären womöglich katastrophal gewesen. Wortlos, wenn auch immer wieder kopfschüttelnd, befreite Mr Gaufridus ihn aus dem Gewirr von Lederriemen, Schnüren und Ketten. Danach lehnte Pin es ab, an weiteren Demonstrationen teilzunehmen, wehrte sich mit zusammengepressten Lippen gegen den Zungen-Zugapparat und beschwor Mr Gaufridus, er möge ihm seine Gerätschaften lediglich erklären . Ob Mr Gaufridus enttäuscht war oder ärgerlich, oder ob ihm gar Zweifel kamen, ließ sich aus seiner Miene nicht entnehmen; er ging jedoch auf Pins Bitte ein. Die nächste Stunde verbrachten die beiden also damit, alle Instrumente und Vorrichtungen zu untersuchen, die Mr Gaufridus entwickelt hatte, um sich vergewissern zu können, dass die Verstorbenen tatsächlich tot waren und nicht etwa schliefen, betrunken waren oder in einem Koma lagen.
Seine Erfindungen waren zahlreich und unterschiedlich. Mr Gaufridus schien die ganze Skala von Schmerz auslösenden Methoden zu kennen, mit deren Hilfe sich Scheintote zum Leben erwecken ließen. Diese Methoden reichten von den nur unangenehmen – an Zehen und Ohren ziehen – über die etwas schmerzhafteren – auf die Knöchel schlagen und ins Ohr schreien – bis zu den unvorstellbar schmerzhaften. Einzelheiten aus letzterer Kategorie sind in Mr Gaufridus’ Buch Tot oder lebendig? nachzulesen (es existieren noch einige wenige Exemplare in lesbarem Zustand). Auch das Wasser des Foedus wurde zweckdienlich eingesetzt. In Flaschen gefüllt und verkorkt verstärkte sich der Gestank so sehr, dass Mr Gaufridus überzeugt war, ein Hauch würde ausreichen, um einen Scheintoten zu erwecken. Während er so von einer zur anderen Erfindung kam, erläuterte er auch seine Theorie, dass ein toter Körper leichter sein müsse als ein lebender, da die Seele ihn verlassen habe.
»Was mag eine Seele wiegen?«, fragte Pin.
»Eine sehr gute Frage, junger Mann«, sagte Mr Gaufridus. »Es ist natürlich nicht schwer, eine entsprechende Waage zu konstruieren. Aber einen Menschen exakt in dem Moment zu wiegen, in dem das Leben aus seinem Körper weicht – das ist das Problem.«
Inzwischen war Pin überzeugt, dass Mr Gaufridus genau der Richtige war, um ein solches Problem zu lösen. Am Ende des Vormittags musste er trotz seiner anfänglichen Zweifel Mr Gaufridus bewundern, weil er sich so entschlossen dafür einsetzte, dass niemand lebendig begraben werde. Das war wirklich ein hohes Ideal. Mr Gaufridus bot Pin, bestärkt durch dessen Wissbegier und kluge Fragen, die Stelle nur zu gern an.
»Was muss ich sonst noch tun, außer Leichen zu bewachen?«, fragte Pin.
Mr Gaufridus überlegte einen Augenblick. »Alles Mögliche, mein Freund, alles Mögliche.«

Und »alles Mögliche« war eine recht passende Beschreibung für Pins Pflichten. Er musste an Zehen ziehen, an Zungen reißen und in Fußsohlen stechen, nicht zu reden von der aufrichtigen Anteilnahme, die er den trauernden Angehörigen entgegenbringen musste, und dem Umlernen auf Sargtischlerei – die Präzision seiner Schwalbenschwanzverbindungen wurde von Mr Gaufridus schon bald geschätzt. Nachts, wenn eine Leiche zu bewachen war, lag Pin dösend auf der Bank in der Cella Moribundi und dachte über die Wendung seines Schicksals nach. Er konnte sicher sein, dass ihn hier niemand stören würde.
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